Im Dschungel der Gefühle

Eine Expedition zu den inneren Urkräften von Vivian Dittmar

Die Erforschung unserer Gefühle ist ein Abenteuer. Sie führt uns mitten in den inneren Dschungel und oft auch in unbekannte Gefilde, um die wir bisher (bewusst oder unbewusst) einen riesengroßen Bogen gemacht haben. Wenn wir aufbrechen, haben wir vielleicht ein vages Gefühl, etwas Wichtigem auf der Spur zu sein – aber im Grunde wissen wir nicht, was uns dort erwartet. Das erfordert Mut und die aufrichtige Bereitschaft, etwas zu verändern. Doch wer sich auf eine Entdeckungsreise ins fremde Land einlässt, kann vieles finden, wonach er jahrelang gesucht hat. Entscheidungsfähigkeit, Tatkraft und Klarheit zum Beispiel. Für andere ist es vielleicht die Kreativität, mehr Lebensfreude oder der Kick, sich wirklich lebendig zu fühlen. Und manchen öffnet sich vielleicht gerade dort, wo sie es am wenigsten erwartet hätten, die Tür zu ihrem Herzen.

Ganz werden

Was gibt es Aufregenderes als Angst, was Gefährlicheres als Wut? Was ist erfüllender als tief empfundene, authentische Freude, und was vermag uns so tief mit uns selbst in Kontakt zu bringen wie Trauer? Jeder von uns kann lernen, mit seinen Empfindungen nicht nur irgendwie zurechtzukommen, sondern sich ihre Kräfte zu erschließen. Schritt für Schritt können wir intensiver fühlen und Platz, Sinn und Nutzen jedes einzelnen Gefühls erkennen, damit es seine ursprüngliche Funktion wieder erfüllen kann. Und nach und nach entpuppt sich das, wogegen all die Jahre angekämpft wurde, als Schlüssel zu unserer Ganzwerdung.

Es geht also nicht darum, mehr Freude und weniger Schmerz zu fühlen, sondern vielmehr darum, jedes Gefühl ganz zuzulassen, bewusst umzusetzen und letztendlich sogar zu genießen. Ja – auch die Angst, die Wut und die Trauer! Das mag zunächst ungeheuerlich klingen. Wie kann man ein Gefühl wie Angst genießen? Wie soll die Trauer, die uns seit Monaten oder vielleicht sogar Jahren wie ein Alb auf der Brust sitzt, zu einer Kraft in unserem Leben werden?…

Fünf Urkräfte

Mit den Gefühlen verhält es sich ähnlich wie mit den Elementen in der Natur: Beide sind absolut lebensnotwendig. Und bei beidem wird grundsätzlich von vier gesprochen, obwohl es eigentlich fünf sind. Die vier gängigen Natur-Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft unterscheiden sich vom fünften (Äther) darin, dass sie wesentlich leichter greifbar und konkreter sind. Die vier Grundgefühle Wut, Trauer, Angst und Freude sind ebenso fühlund fassbar, weil nach außen gerichtet – im Gegensatz zum fünften Gefühl, der Scham, die sich nach innen richtet. Und weil sich die Kräfte der Elemente und der Gefühle so ähnlich sind, kann man sie einander auch zuordnen:

 Wut = Feuer

Trauer = Wasser

Angst = Erde

Freude = Luft

Scham = Äther

Was aber unterscheidet diese vier bzw. fünf Grundgefühle von anderen emotionalen Regungen? Nun, sie sind nicht einfach „Empfindungen“, sondern vielmehr Ausdruck einer Kraft, die in unserem Leben wichtige Funktionen zu erfüllen hat. Jede dieser fünf Urkräfte befähigt uns zu unterschiedlichen Handlungen oder psychologischen Prozessen.

Das Unwissen über diese wahre Natur der Gefühle verursacht in unserem Leben und in der Gesellschaft große Probleme. Wenn Gefühle nämlich einfach als „irrationale, emotionale Wallungen“ abgetan und ignoriert werden, führt das zu einem Schnitt zwischen unseren rationalen Denkvorgängen und dem, was uns die Leidenschaft diktiert. Erst durch die Erschließung und Aneignung jedes einzelnen Gefühls als „Ur-Kraft“ können Gedanken, Gefühle und Taten als Einheit fließen und unseren Leidenschaften, Herzenswünschen, Ängsten und Aggressionen bewusst eine Richtung geben.

Natur in uns

Urkraft ist ein großes Wort – aber die Regungen und Umtriebe unseres Innenlebens kann man durchaus so nennen. Steckt doch in der Wut jedes Einzelnen die gleiche Kraft, wie in einem Vulkanausbruch oder der kraftvollen Entladung eines Blitzes in einer Gewitterwolke. Die Trauer in unseren Herzen hat dieselbe reinigende Kraft, wie Regen an einem frischen Herbsttag oder das Meer, wenn es unermüdlich unsere verschmutzten Flüsse schluckt. Wir alle tragen die Urkraft der Freude in uns, vibrierend wie die Luft an einem flirrenden Hochsommertag – und auch die Urkraft der Angst, die sich wie das Zittern der Erde in einem Beben entlädt.

Genauso wie die Natur nicht ohne eine dieser elementaren Kräfte überleben kann, fehlen uns Menschen elementare Facetten unseres Wesens, wenn diese Gefühle nicht gefühlt werden bzw. nicht zugänglich sind. Wut als innere Kraft ist im Leben so existenziell notwendig, wie Feuer und Magma für die natürliche Ordnung auf diesem Planeten. Das Feuer der Wut (unsere Fähigkeit, „Nein“ zu sagen) ist in der Lage, Altes zu zerstören, damit Neues entstehen kann – genauso wie sich die todbringende Lavaflut im Lauf der Zeit in fruchtbares Ackerland besonderer Güte verwandelt. Ein Blitz kann furchtbare Zerstörung bringen – und dennoch war es wohl ein Blitz, der den Menschen das erste Feuer brachte. Es sind immer zwei Seiten derselben Münze. Und so wie man in der Natur nicht von einer guten oder einer schlechten Kraft sprechen kann, so kann man das auch nicht bei unseren Gefühlen. Eine Kraft ist einfach eine Kraft, sie ist weder gut noch schlecht. Erst der Umgang damit bestimmt, in welche Richtung sie wirkt.

Um ein Gefühl bewusst als Kraft einsetzen zu können, müssen wir uns zuerst mit ihm anfreunden, indem wir es bewusst erleben und annehmen. Wer dazu nicht bereit ist, bleibt Sklave des Gefühls und ist gezwungen, ihm auszuweichen oder es an anderen auszulassen. Solange wir mit unserer Wut, Trauer, Angst, Scham oder auch Freude ein Problem haben, verwenden wir unbewusst sehr viel Energie darauf, das Fühlen zu unterdrücken. Ganze Lebensentwürfe und Beziehungsstrukturen basieren auf dem Bestreben, gewisse Gefühle zu vermeiden.

Was ist fühlen?

Ein Gefühl muss also auch wirklich gefühlt werden. Ist das nicht selbstverständlich? Keineswegs. Um das emotionale Fühlen besser zu verstehen, lasst es mich am Beispiel des physischen Körpers erklären: Auf körperlicher Ebene wird ein beispielsweise durch den Tastsinn ausgelöster Reiz ans Gehirn weitergeleitet, um dort verarbeitet zu werden. Unser Körper braucht diesen Informationsfluss, um den reibungslosen Ablauf seiner Funktionen zu koordinieren. Stoffwechsel, Herzschlag, Atem und Hormonhaushalt passen sich laufend den aktuellen Anforderungen der Umgebung an, und das meist ohne bewusstes Fühlen der auslösenden Reize. Bewusst nehmen wir sie erst dann wahr, wenn etwas eintritt, das der Körper nicht mehr ohne weiteres ausgleichen kann – zum Beispiel extreme Hitze oder Kälte oder eine andere Einwirkung, die für unser Wohlergehen eine Bedrohung darstellt. Erst dann wird aus dem Reiz eine bewusste Empfindung: die Temperatur wird gefühlt, damit wir etwas Schützendes unternehmen können, z.B. einen Pullover anziehen, die Hand von der Herdplatte wegziehen oder in den Schatten gehen.

Eine Empfindung ist also ein Signal, das uns darauf hinweist, dass etwas unserer Aufmerksamkeit bedarf. Meist sind wir für diesen Hinweis dankbar, denn wir wissen, dass er für uns wichtig ist. Normalerweise wissen wir auch genau, wie wir mit so einer physischen Empfindung umgehen müssen – bei der Wahrnehmung psychischer Gefühle ist das anders…

Gefühle sind keine Reize

Die meisten Menschen haben aufgehört, ihre Gefühle bewusst wahrzunehmen. Sie behandeln sie eher wie Reize, die unser System unbewusst verarbeiten kann, und nicht als Empfindungen. Gefühle wollen aber gefühlt werden, denn sie weisen uns darauf hin, dass etwas unserer Aufmerksamkeit bedarf und befähigen uns, mit Situationen bewusster umzugehen. Unsere Wut, Trauer, Angst, Freude oder Scham erfordert bewusste Aufmerksamkeit, damit etwas verändert, akzeptiert, losgelassen, honoriert oder eingestanden werden kann. Wenn wir Gefühle ausblenden, sind die Auswirkungen ähnlich problematisch, als würden wir körperliche Reize, die uns auf etwas hinweisen, einfach ausblenden.

Ein Beispiel: Ein Arbeitskollege hat mich grundlos angeschnauzt. Das macht mich wütend – aber ich behandle die Wut-Energie in meinem System als Reiz und bemühe mich nach Kräften, ihn nicht zu fühlen, indem ich mich wahlweise mit Schokolade, Internet oder Infotainment ablenke. Nüchtern betrachtet ist dieses Verhalten ähnlich absurd, als würde ich in einem überheizten Raum schwitzen und mich ständig ablenken, um die Hitze nicht zu fühlen. Wende ich mich hingegen dem erzeugten Gefühl zu, dann halte ich einen Moment inne und lenke meine Aufmerksamkeit bewusst auf mein Körperempfinden, um genauere Informationen zu bekommen. Innerhalb von Sekunden werde ich dann feststellen, dass mir heiß ist und herausfinden, was ich zur Abhilfe unternehmen kann (Wasser trinken, etwas ausziehen, Ventilator einschalten etc.).

Genauso kann ich es mir bei psychischen Empfindungen zur Gewohnheit machen, die Aufmerksamkeit direkt auf meinen inneren Raum zu lenken und zu fühlen, was dort los ist. Mit etwas Übung kann ich sehr schnell erkennen, was mir dort begegnet: Ist es die dumpfe Ladung einer Emotion, ist es eine pseudokörperliche Empfindung oder ist es ein Gefühl, das als Kraft eingesetzt werden möchte?

Beobachten statt Fühlen

Natürlich blenden nicht alle Menschen ihre Gefühle konsequent aus. Viele befassen sich sogar recht ausführlich damit – indem sie ihre Gefühle beobachten. Beobachten ist aber noch nicht Fühlen! Beim Beobachten liegt unser Fokus auf der Auswertung der Informationen, welche die Empfindungen uns liefern, daher spielt es sich eher auf der mentalen oder intellektuellen Ebene ab.

Beobachten wird häufig mit Fühlen verwechselt, weil wir es gar nicht anders kennen. Besonders jene Menschen, die sich für persönliche Entwicklung interessieren, sind ja oft Meister der Selbstbeobachtung. Kein Geheimdienst der Welt wird es schaffen, sie besser zu beobachten, als sie es selbst tun, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, und das oft seit Jahren. Versierte Selbstbeobachter wissen alles über sich, und wenn man sie auf ihre Blockaden, Diskrepanzen und Muster anspricht, sagen sie meist „Jaja, ich weiß“. Doch weil ihnen der Unterschied zwischen Hinschauen und konkretem, direktem Fühlen nicht klar ist, dümpeln gewisse innere Themen über Jahre quasi unverändert vor sich hin – und früher oder später stellt sich trotz des enormen Aufwands eine gewisse Frustration ein: Immer das Gleiche!

Kein Wunder. Denn innere Beobachtung liefert uns zwar jede Menge Informationen, ändert jedoch kaum etwas am Status quo. Beziehen wir unser vorheriges Beispiel auf einen solch versierten Beobachter, könnte das so aussehen: Nachdem er von seinem Arbeitskollegen angeschnauzt wurde, bemerkt er in seinem Inneren einen gewissen Tumult – worauf er sich an seinen Schreibtisch setzt und sofort seine Aufmerksamkeit nach innen lenkt. Er stellt fest, dass er aufgewühlt ist und findet sofort einen sinnvollen Zusammenhang mit traumatischen Kindheitserfahrungen, weil er von seiner Mutter oft grundlos angefahren wurde. Dann beginnt er damit, sein Innerstes genau zu analysieren und akribisch zu notieren, was er fühlt, warum er es fühlt und wie er sein inneres Erleben verändern könnte… All das ist eine wunderbare Möglichkeit, wieder nicht zu fühlen, denn Fühlen spielt sich nicht auf der Ebene der Gedanken und Worte ab.

Wege zur Erkenntnis

Trotzdem soll das Beobachten hier nicht generell verteufelt werden. Gerade wenn es um Gefühle geht, kann es sehr wertvoll sein, etwa um zu erkennen, welche Gefühle im Übermaß erzeugt werden und welche Kräfte uns fehlen. Auch innere Fragen können helfen, präzisere Unterscheidungen zu treffen: Wie steht es um meine Entscheidungsfähigkeit oder Abenteuerlust? Wie ist es um die Lebensfreude oder die Wertschätzung bestellt? Die durch Beobachtung erlangte Feststellung, dass man in sich selbst kein Wutgefühl kennt, ist der erste Schritt auf dem Weg zur Heilung und Erweckung dieser Kraft. Die Erkenntnis, dass Angst bisher nur als lähmend erfahren wurde, ist der Startpunkt für die Erforschung der Angst als Kraft.

Durch aufmerksame Beobachtung können wir zudem erkennen, wie wir unsere Gefühle betäuben. Die Liste der verfügbaren Drogen ist ja heutzutage nahezu endlos. Sie reicht von Offensichtlichem, wie etwa dem Konsum legaler und illegaler Drogen, bis zu Fernsehen, Lesen, Essen, Lästern, Einkaufen, Schlafen oder auch Meditation. Durch Beobachtung werden wir uns dieser Strategien bewusst – etwas verändern können wir jedoch nur dann, wenn wir uns auf das Gefühl real einlassen. Es ist so ähnlich, als würden wir uns selbst im Fernsehen sehen: Wir können zwar alles optimal sehen und erkennen – aber jeder Versuch, ins Geschehen einzugreifen ist vergebens, denn die emotionalen Mechanismen laufen woanders, auf einer anderen Ebene ab.

Ganz Fühlen

Nun haben wir schon einiges darüber erfahren, was Fühlen nicht ist – aber recht wenig darüber, was es tatsächlich ist. Fühlen ist die direkte Hinwendung zu und die Wahrnehmung von einer Empfindung. Fühlen ist Fühlen. Es unterscheidet sich vom Beobachten, wie sich direktes Erleben von der Erzählung des Erlebten unterscheidet. Es ist wie beim berühmten „ersten Mal”: wir können endlos darüber reden, und dennoch wird nichts das Erfahrene und Gefühlte angemessen in Worte fassen. Wer es selbst erlebt hat, wird durch eine gute Beschreibung vielleicht an dieses Gefühl erinnert. Wer es nie erlebt hat, kann auch durch die beste Beschreibung nicht wirklich nachvollziehen, wie es sich anfühlt. Umgekehrt ist es so, dass wir ohne Zweifel wissen, dass wir fühlen, wenn wir fühlen. Denn solange noch ein Zweifel besteht, sind wir wohl eher beim Beobachten oder Vermeiden. Wenn wir wirklich fühlen, sind wir unmittelbar im Erleben und wissen, dass wir fühlen, einfach weil wir es fühlen.

Alles ist gut

Vor allem bei den sogenannten negativen Gefühlen wie Angst oder Trauer gibt es natürlicherweise gewisse Widerstände, sie ganz zu fühlen. Weil wir sie mit Schmerz assoziieren, weichen wir ihnen gerne aus. Für die meisten Menschen braucht es auch nach jahrelanger Übung einen Moment des Innehaltens, des Durchatmens und der bewussten Hinwendung zu dem inneren Raum der Wahrnehmung, damit (schmerzliches) Fühlen geschehen kann. Aber sobald diese Hinwendung geschehen ist und wir uns in den Raum des Fühlens hinein entspannt haben, ist alles gut. Dann merken wir gleich, dass unsere Angst vor solchen Gefühlen überflüssig war. Sie sind dann einfach da, und tun meist auch gar nicht so weh – unsere Weigerung, sich auf sie einzulassen, war meist viel schmerzhafter. Schließlich sind diese Gefühle kein Problem, sondern die Lösung eines Problems.

Und noch eine gute Nachricht: Auch wenn wir uns das Fühlen abgewöhnt haben – wir können es uns genauso wieder angewöhnen. Der Schlüssel dazu liegt, wie so oft, einfach im Tun und Üben!

Vivian Dittmar, geboren 1978 in München, ist Mutter von zwei Söhnen und lebt mit ihrer Familie in Süddeutschland und Südtirol. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie auf drei Kontinenten, in sehr unterschiedlichen Kulturen. Diese Erfahrung sensibilisierte sie schon früh für die globalen Herausforderungen unserer Zeit und ist bis heute ihr Antrieb, ganzheitliche Lösungen zu finden und umzusetzen. Zurzeit arbeitet sie als Autorin, Referentin, Seminarleiterin und Unternehmensberaterin – als solche setzt sie Impulse für den Wandel hin zu einer zukunftsfähigen Kultur, die eine ganzheitliche Definition von Wohlstand und Nachhaltigkeit in den Vordergrund stellt. www.viviandittmar.net

Zum Weiterlesen:
Vivian Dittmar, Gefühle und Emotionen – eine Gebrauchsanweisung, edition est, 17,50 Euro

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