Im Zeitalter der Informationstechnologien hat Schule ihre Legitimation als Ort der Wissensvermittlung verloren. Wenn das Internet das ganze Wissen der Welt per Mausklick zur Verfügung stellt, welchen Sinn hat dann das Auswendiglernen von Fakten? Wenn Sprachen schneller und effektiver per Onlinekurs erlernt werden können als in einem Klassenzimmer, was haben wir dann dort zu suchen? Wenn lebenslanges Lernen aufgrund der rasanten Entwicklung des gesamten Wissenskollektivs ein Muss ist, welche Funktion kann Schule dann noch haben?
Die Antwort ist meines Erachtens eine ganz einfache, wenn auch nicht wirklich angenehme. Sie betrifft nämlich genau jenen Bereich, in dem Schule heute gnadenlos versagt. Ich spreche hier vom Bereich Beziehung und Kooperation. Es ist dies nämlich der einzige Bereich, der nicht wegdigitalisiert werden kann. Echter Kontakt und echte Beziehung kann nicht durch Mausklicks und Gigabyte ersetzt werden, egal wie stark die Rechenleistung unserer Computer wird. Kinder und Jugendliche scheinen dies instinktiv zu wissen. Warum gehen sie in die Schule? Richtig, um ihre Freunde zu treffen. Was beschäftigt sie dort am meisten? Richtig, wer mit wem gerade gut Freund ist und wer nicht. Wer mich mag und wer nicht. Wer dazu gehört und wer nicht. Sie sind vor allem mit Beziehungen beschäftigt.
Es ist das soziale Lernen, das fast unablässig ihre gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt – und Lehrer haben ihre liebe Not, sie davon abzulenken und sie dazu zu bringen, sich mit dem alten Rom oder ähnlichem zu befassen. Sie sehnen sich nach der Pause. Nicht nur weil sie sich dort endlich bewegen, etwas essen und trinken können, sondern vor allem weil sie sich endlich mit dem befassen können, was sie wirklich interessiert: mit einander!
Tragischerweise versucht Schule in seiner jetzigen Form alles nur erdenkliche, um genau dieses Lernen zu unterbinden. Statt sich miteinander zu befassen, werden die Schüler ständig dazu angehalten, ihre Aufmerksamkeit auf den Lehrer auszurichten. Statt zu kooperieren, werden sie dazu aufgefordert, sich um sich selbst zu kümmern und zu konkurrieren. Das ist tragisch, weil alles in dem Kind offenbar auf das Gegenteil programmiert ist. Alles in ihm will sich vor allem mit Gleichaltrigen befassen, will herausfinden, wie das ist, mit den anderen in Beziehung zu sein, weiß intuitiv, wie hochkomplex Kooperation ist und dass es unzählige Stunden gelebter Beziehung braucht, um diese zu erlernen. Ich möchte damit nicht sagen, dass Lehrer überflüssig sind und wir die Kinder einfach sich selbst überlassen sollten, wie manche so genannte freie Schule das postuliert. Kinder brauchen in diesem Lernprozess Begleitung und Unterstützung. Und vor allem brauchen sie Vorbilder. Die Beziehung zu Erwachsenen ist für Kinder außerordentlich wichtig. Sie gibt ihnen Halt und Orientierung, die sie von Gleichaltrigen und auch von älteren Kindern in dieser Form nicht bekommen können. Doch die Funktion des Lehrers als Wissensvermittler hat ausgedient. Sie ist komplett überflüssig geworden. Die Lehrer von morgen müssten vor allem über eine hohe soziale Kompetenz verfügen. Wichtig sind nicht mehr die Inhalte oder das Wissen, das sie vermitteln können, sondern wer sie sind. Die Lehrerausbildung müsste komplett auf die Persönlichkeitsentwicklung des Lehrers ausgerichtet sein. Doch wie geschieht soziales Lernen eigentlich? Wie lernen wir Kooperation? Richtig, indem wir die Gelegenheit haben, Beziehung zu leben und tatsächlich zusammenzuarbeiten. Kinder tun dies unablässig, wenn man sie lässt. Das bedeutet nicht, dass sie nicht auch konkurrieren. Doch sie kooperieren auch. Sie wissen, dass es beides zu lernen gilt – und sie merken sehr bald, dass Kooperation sehr viel komplexer ist als Konkurrenz. Es ist sehr viel komplizierter, gemeinsam mit einer Gruppe von Freunden eine Hütte im Wald zu bauen, als alleine so schnell ich kann hundert Meter zurückzulegen. Ständig sind Entscheidungen zu treffen, man muss sich einigen. Es braucht Führung, doch nicht so viel dass die anderen nicht mehr mitmachen wollen. Es braucht konkrete Vorstellungen, aber nicht zu konkret, so dass auch die anderen sich einbringen können. Es ist ein ständiges Abwägen des Beziehungsgeflechts in dem man sich bewegt, ein Abstimmen der Verhältnisse untereinander, ein Ineinanderweben von Ideen.
Manager und Führungskräfte erhalten heute in teuren Trainings Nachhilfeunterricht in den Grundlagen der Kooperation. Das geschieht nicht etwa, weil die Unternehmensleitung sich wünscht, dass alle ein bisschen netter zueinander sind, sondern, weil man heute weiß, dass die mangelnde Kooperationsfähigkeit von Mitarbeitern Unsummen kostet. Sie führt zu Fehlern und verhindert schlimmstenfalls die erfolgreiche Umsetzung von Projekten. Die Idee, dass eine Gruppe von Menschen dann Höchstleistung erbringt, wenn jeder Einzelne – angespornt durch Konkurrenz – sein bestes gibt, hat sich als nicht haltbar erwiesen. Nur wenn es gelingt, das Wissen, die Intelligenz und die Kompetenz aller Beteiligten zu einem sinnvollen Ganzen zu verweben kann eine Gruppe Höchstleistungen erbringen. Die Schule der Zukunft sollte ein Ort sein, an dem genau das erlernt werden kann.
Vivian Dittmar ist Autorin mehrerer Bücher zu den Themen Gefühle und Beziehungen. Ihr Buch „Gefühle und Beziehungen – eine Gebrauchsanweisung“ ist den Kraft- und Schattenaspekte von Gefühlen gewidmet. Durch ihre Beiträge, Vorträge, Seminare und Online-Angebote engagiert sie sich seit zwei Jahrzehnten für eine holistische Entwicklung von Mensch, Gesellschaft, Wirtschaft und Bewusstsein. www.viviandittmar.net
Zum Weiterlesen: das Buch Beziehungsweise, erschienen im edition est Verlag.