Gewaltfrei wütend – geht das?

Viele Menschen setzen Wut mit Aggression und Gewalt gleich. Das ist zwar naheliegend, verhindert jedoch, dass wir unsere Wut als positive Gestaltungskraft in Besitz nehmen und lernen, sie als solche zu lenken und einzusetzen. Das hat die fatale Folge, dass gerade jene Menschen, die sich von Herzen für das Wahre, Gute und Schöne in der Welt einsetzen möchten, vor ihrer eigenen Wutkraft zurückschrecken und das Feld jenen überlassen, die ganz andere Interessen verfolgen. Doch nicht immer genügt es, anderen gut zuzureden oder an ihr Mitgefühl zu appellieren. Es gibt Situationen im Leben, in denen es heißt, Farbe zu bekennen und einen klaren Standpunkt zu beziehen. Und genau dafür ist unsere Wutkraft eigentlich da.

Magma, das durch einen Krater nach außen drängt

Wut ist rot, Wut ist Feuer, Wut ist geballte Ladung, die einen Ausdruck sucht.
Wut ist wie Magma, das durch einen Krater nach außen drängt, oder wie ein Blitz, der sich zwischen Luftschichten entlädt. Wut ist eine Kraft, die Großes schaffen und ebenso Großes zerstören kann. Wut ist Handlungskraft Nummer eins. Unser Körper wird von Adrenalin überflutet, das ganze System ist in Aktionsbereitschaft, Energiereserven ungeahnter Größe werden mobilisiert. Unmögliches wird möglich gemacht oder Unliebsames aus dem Weg geräumt. Wut ist eine Kraft, die wie ein Blitz durch uns hindurchfahren kann, wenn wir es zulassen.

„Das ist einfach falsch!“

Wut entsteht als Reaktion auf die Interpretation „Das ist falsch“. Ich kann die Interpretation „Das ist falsch“ nur dann treffen, wenn ich eine klare Position habe, da es im absoluten Sinn kein Richtig oder Falsch gibt. Ist eine Umgehungsstraße für ein Dorf richtig oder falsch? Das hängt ganz von meiner Position ab. Als Anwohner der viel befahrenen Dorfstraße werde ich es wohl als falsch interpretieren, dass diese Umgehungsstraße nicht schon längst gebaut wurde. Als leidenschaftlicher Naturschützer sehe ich das vielleicht genau umgekehrt: Noch eine Straße durch ohnehin schon geschädigte Wälder zu bauen ist doch wohl eindeutig falsch! Ich werde meine Wutkraft einsetzen, um diese Position zu verteidigen und für die Rechte der Tiere einzustehen, die durch die neue Straße zum Beispiel von ihrer Wasserstelle abgeschnitten würden. Wut ist also nicht nur auf eine Position angewiesen, sie kann diese auch definieren. Welche Position das ist, spielt für die Wutkraft keine Rolle. Ausschlaggebend ist, dass die gewählte Position klar ist und dass wir bereit sind, für sie einzustehen. Das ist alles.

Wut aus gesellschaftlicher Perspektive

In unserer Gesellschaft erlebe ich die Beziehung zur Wut als ambivalent. Einerseits wird die Aggressivität eines Managers in Verhandlungen durchaus geschätzt, andererseits werden die Prügeleien von Jungs auf dem Schulhof als problematisch diskutiert. Wenn eine Frau weiß, was sie will, so ist das einerseits toll, andererseits gilt sie im Vollbesitz ihrer Wutkraft schnell als Mannweib oder sogar als hysterisch. Die Wutanfälle von Dreijährigen finden die meisten furchtbar, jedoch ist ein gewisses Durchsetzungsvermögen schon im Kindergarten durchaus erwünscht. Im Klartext: Wutkraft ja, aber bitte sanft und freundlich. Kulturunabhängig wird Wutkraft eher bei Männern als bei Frauen geschätzt.

Natürlich gibt es auch Kulturkreise, in denen die Wutkraft komplett abgelehnt wird, besonders im asiatischen Raum. Jemandem mit Wut zu begegnen ist dort ein absolutes Tabu. Durch die Konfrontation damit, dass er oder sein Verhalten als falsch gesehen werden, verliert der andere sein Gesicht. Jede Kommunikation, dass jemand womöglich anders ist, als man es als angemessen empfindet, muss daher sehr dezent und geschickt über Dritte oder gar wortlos in diskreten, fast zufällig erscheinenden Hinweisen geschehen.

Wut als Kraft

Durch Wut beziehen wir eine Position. In dem Moment, in dem ich etwas als falsch definiere, zücke ich mein Schwert der Klarheit und definiere, was für mich in Ordnung ist und was nicht. Wut ist dann die Kraft, die es mir ermöglicht, für diese Position einzustehen und sie bei Bedarf auch zu verteidigen. Wut ist damit die Kraft der Klarheit. Ihr Feuer befähigt mich zu handeln. Durch sie gebiete ich jenen Einhalt, die meine Grenzen überschreiten, und durch sie stehe ich für meine Bedürfnisse ein. Durch Wutkraft wirke ich in der Welt und beeinflusse sie im Sinne meiner Einschätzung von Richtig und Falsch.

Indem ich eine Position beziehe, entscheide ich auch, wer ich bin. Bin ich ein Mensch, der es in Ordnung findet, wenn hinter dem Rücken eines Freundes schlecht über ihn geredet wird, ohne ein klärendes Gespräch zu suchen? Bin ich ein Mensch, der etwas dagegen hat, wenn Müll auf der Straße herumliegt, weil meine Mitmenschen zu faul sind, die Mülleimer zu verwenden? Bin ich jemand, dem es egal ist, dass die Ökosysteme der Erde Tag um Tag in einem Ausmaß ausgebeutet werden, das nachfolgenden Generationen kaum eine Überlebenschance lässt? Eine gesunde Wutkraft ermöglicht es mir, in all diesen Fragen klar Stellung zu beziehen und dann auch entsprechend zu handeln.

Menschen, die eine gesunde Wutkraft haben, werden von ihren Mitmenschen ernst genommen. Wir wissen, dass hier auf Worte Taten folgen. Menschen mit einer guten Wutkraft sind starke Verbündete, wenn es darum geht, etwas ins Leben zu rufen oder einem Unrecht ein Ende zu setzen.

Doch bei Wutkraft geht es nicht immer nur um die ganz großen, weltbewegenden Dinge. Wutkraft beginnt bereits ganz klein: Wenn mir ein Stift
herunterfällt, ich es als falsch interpretiere, dass dieser auf dem Boden liegt, und mit der erzeugten Minidosis Wutkraft diesen Stift wieder aufhebe. Oder wenn ich auf meinem Pullover einen Wollfussel entdecke und diesen ohne Zögern abpflücke, da ich Wollpullis mit Fusseln falsch finde. Wenn wir lernen, Wutkraft auch in diesen kleinen, ganz alltäglichen Situationen wahrzunehmen und wertzuschätzen, beginnen wir zu begreifen, dass sie weit mehr ist als der Wutausbruch des cholerischen Kollegen. Wut ist die Kraft, die Handlung ermöglicht.

Gute Kraft, schlechte Kraft?

Ob Wutkraft gut oder schlecht, richtig oder falsch ist, soll hier nicht diskutiert werden. Klargestellt werden will lediglich eines: Wut ist eine Kraft wie Feuer oder Strom. Ob diese nun gut sind oder schlecht, liegt nicht im Wesen dieser Kräfte, sondern lediglich in der Absicht, die sie lenkt. Und Fakt ist: Wir brauchen diese Kraft so sehr, wie wir Feuer und Strom brauchen.

Doch wir alle wissen, dass dieses Gefühl sich auch anders äußern kann. In ihrem Schattenausdruck ist Wut zerstörerisch und verletzend.

Wenn Wutkraft fehlt

Wenn uns Wut fehlt, so sind wir nicht nur besonders friedliebende Mitmenschen, sondern auch mehr oder minder handlungsunfähig. Unsere Angst, es irgendjemandem nicht recht zu machen, hält uns davon ab, eine Position zu beziehen, egal welche. Wir verkennen, dass Positionen wichtig sind. Geschieht etwas, das uns nicht in den Kram passt, reagieren wir dann häufig mit Trauer. Damit wir unserer Hilflosigkeit nicht völlig ausgeliefert sind, verlassen wir uns auf subtil ausgeklügelte Manipulationsschemata und Opferdramen, um dennoch unsere Bedürfnisse erfüllt zu bekommen. Denn eines steht fest, Bedürfnisse haben wir, solange wir leben. Indem wir uns weigern, eine Position einzunehmen, drücken wir uns vor einer ganz banalen Verantwortung, die jeder von uns hat: für sich selbst einzustehen, seinen Platz einzunehmen und für sich selbst zu sorgen. Wir haben unsere Wutkraft, damit wir uns um uns selbst kümmern können, unser Revier abstecken können, klar sein können und dadurch etwas erschaffen können.

Fehlt uns die Bereitschaft, etwas klar als falsch zu beurteilen, verbauen wir uns auch jede Möglichkeit, etwas wirklich von ganzem Herzen als richtig anzuerkennen. Und können wir etwas nicht wirklich als richtig erkennen, so können wir uns auch nicht freuen. Alles verschwimmt dann in einem ausdruckslos toleranten, unauthentischen Einerlei, und mit dem gefürchteten Konflikt ist unversehens auch jede Vitalität baden gegangen. Wir sind alle furchtbar nett zueinander, die Konflikte bleiben dennoch nicht aus und werden hinterrücks ausgetragen. Die vitale Freude lebendiger Beziehungen mit unserer Umwelt ist uns abhanden gekommen. Wir haben uns selbst aus der Erfahrung der Dualität und somit des Lebens herausgetrickst!

Wenn wir zu viel Wut erzeugen

Ein übermäßiges Erzeugen von Wutkraft ist mindestens genauso kontraproduktiv wie die Verweigerung, dieselbe zu erschaffen. Treffe ich allzu leichtfertig die Interpretation, dass etwas falsch ist, gerate ich in eine Sackgasse. Der klassische Choleriker lässt nicht nur kein gutes Haar an einer Sache, er verrennt sich auch in Wuttiraden über Dinge, die er schlicht nicht ändern kann. Wut ist jedoch eine Kraft, deren Hauptfunktion die Befähigung zur Handlung ist. Treffe ich in Situationen, die ich per definitionem nicht ändern kann, die Interpretation, dass sie falsch sind, führt das bestenfalls zur Frustration. Schlimmstenfalls sucht die Wut sich dann doch irgendwie einen Ausweg in die Handlung – wie die Kraft des Magmas durch den Krater eines Vulkans. Willkürlich werden dann Dinge oder Menschen zerstört, einzig um die erzeugte Energie zu verbrauchen.

In Situationen, auf die wir keinen Einfluss haben, ist Wut nicht die passende Kraft. Wir gleichen dann Kindern im Trotzalter, die eine Situation und ihre Fähigkeiten falsch einschätzen und Wutkraft in Situationen erzeugen, die sie nicht ändern können. Situationen, die sich unserem Einfluss entziehen, können wir mit vier anderen Interpretationen angemessen begegnen: „Das ist schade“, „Das ist furchtbar“, „Das ist richtig“ oder „Ich bin falsch“. Jede dieser Interpretationen lässt im System ihre ganz eigene Kraft entstehen, und jede dieser Kräfte hat wiederum eine ganz eigene, spezifische Funktion.

Veröffentlicht im Magazin Prisma, Ausgabe 81 (2018)

Vivian Dittmar ist Autorin mehrerer Bücher zu den Themen Gefühle und Beziehungen. Ihr Buch „Gefühle und Beziehungen – eine Gebrauchsanweisung“ ist den Kraft- und Schattenaspekte von Gefühlen gewidmet. Durch ihre Beiträge, Vorträge, Seminare und Online-Angebote engagiert sie sich seit zwei Jahrzehnten für eine holistische Entwicklung von Mensch, Gesellschaft, Wirtschaft und Bewusstsein. www.viviandittmar.net

Zum Weiterlesen:
Vivian Dittmar, Gefühle und Emotionen – eine Gebrauchsanweisung, edition est, 17,50 Euro

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