Angstkraft

Angst ist vermutlich die Gefühlskraft, vor der wir am meisten Angst haben. Stress, Nervosität, Hektik und Schlafstörungen sind nur ein paar der Ausdrucksformen unserer Stiefbeziehung zur Angst. Angst, das ist ein Gefühl, das selten erwünscht ist. Angst bedeutet Grenze, Angst bedeutet Einschränkung, Angst bedeutet, nicht mehr weiterzuwissen. Die Angst entspricht dem Element Erde. Wie eine Felswand oder ein Berg baut sie sich vor uns auf und signalisiert uns: Sackgasse!

Eine mysteriöse Kraft

Angst ist eine dunkle und mysteriöse Kraft, die sich uns erst dann erschließt, wenn wir uns auf sie einlassen. Angst ist wie der Tod. Durch sie sterben wir und werden neu geboren, wie unser Leib nach unserem Tod von der Erde verdaut wird und aus ihr neu geboren wird. Wir wissen weder wie, noch in welcher Form, und wir haben es auch nicht in der Hand. Wie der Tod ist Angst eine Schwelle, die das Bekannte vom Unbekannten trennt. Und Angst ist auch die Kraft, die uns über diese Schwelle tragen kann. Denn wenn wir etwas weder ändern noch akzeptieren können, dann kann nur etwas
vollkommen Neues geschehen, dann können nur wir unsere Form ändern. Energie geht nie verloren, sie geht lediglich in eine andere Form über. Angst ist die Kraft, die uns über unsere jetzige Form hinausführt, in den dunklen Schoß der Kreativität, aus dem wir neu geboren werden können.

Angst aus gesellschaftlicher Perspektive

Vieles in unserer Gesellschaft ist darauf aufgebaut, Angst zu vermeiden. Sei es die Krankenkasse oder der Mietvertrag, das Rechtssystem oder die Ehe, die Sicherheitsbestimmungen oder die Sozialversicherungssysteme: All das soll vor allem bewirken, dass wir uns sicher fühlen. Es soll dafür sorgen, dass die Angst beruhigt, gezähmt wird – ja, unter weitreichender Kontrolle ist. Überspitzt ausgedrückt könnte man glatt behaupten, dass unsere gesamte Zivilisation ein einziges Angstvermeidungssystem darstellt.

Umso erstaunlicher ist da die Tatsache, dass Ängste In unserer Gesellschaft ein weitaus größeres Problem darstellen, als in vielen Anderen Ländern. Existenzängste, Versagensängste, Schulängste, Prüfungsängste, Verlassenheitsängste – um nur einige zu nennen – scheinen Jahr für Jahr zuzunehmen. Und das, obwohl unsere Sicherheitssysteme immer Ausgefeilter werden, damit wir unsere Ängste scheinbar effektiver ausklammern können. Es schein: Je sicherer wir werden, desto mehr Angst haben wir. Wir kann das sein?

Das verkannte Wesen der Angst

Angst ist ein Signal für Unbekanntes. Wäre die Angst nur ein Signal für Gefahr, würde sie mit zunehmender Absicherung verschwindend klein werden. Wir würden angstfrei leben, wie es uns die Hochglanzbroschüren so mancher Versicherungsunternehmen suggerieren möchten. Berufsunfähigkeitsversicherung kombiniert mit einer Risikolebensversicherung und dann noch eine Prise Haftpflichtversicherung dazu – und schon kann uns nichts mehr passieren! Durch zunehmende Absicherung reduziert sich womöglich die Gefahr in meinem Leben, nicht jedoch der Bereich des Unbekannten. Im Gegenteil, je mehr ich mich absichere, desto mehr grenze ich mich ein und vergrößere somit den Bereich des Unbekannten – und damit den Bereich der Angst.

Sind wir jedoch nicht bereit, etwas außer unserer Angst als furchtbar zu erleben, so haben wir keine Möglichkeit, bekanntes Territorium zu verlassen. Wir sind in den Begrenzungen der bekannten Welt gefangen. Es geht uns wie den europäischen Seefahrern vor den Reisen des Columbus. Ihr Radius war aufgrund ihrer Überzeugungen und ihres Unwissens, was jenseits dieser Überzeugungen liegt, stark eingeschränkt. Columbus ist nach all dieser Zeit, trotz seiner vielen Fehler und Vergehen, immer noch ein Held. Er hatte den Mut, sich seiner Angst zu stellen und über die Grenzen des damals Bekannten hinauszusegeln, ins Ungewisse.

„Oh Gott, wie furchtbar!“

Ich erzeuge Angst durch die Interpretation „Das ist
furchtbar“. Ich interpretiere etwas als furchtbar, wenn ich nicht weiß, wie ich mit dem, was mir begegnet, leben kann. Ich weiß nicht, wie ich sein muss, um dem begegnen zu können. Hierin unterscheidet sich die Interpretation furchtbar eindeutig von den Interpretationen falsch und schade. Falsch heißt, ich kann etwas ändern, schade hingegen, ich kann oder muss es akzeptieren. Etwas ist jedoch furchtbar, wenn ich es nicht einfach hinnehmen kann, jedoch keine Möglichkeit kenne, es zu verändern.

Angst als Kraft

Gerade bei der Angst, diesem allgemein als schrecklich empfundenen Gefühl, scheint es verwunderlich, von einer Kraft sprechen zu wollen. Bei so viel Angst, die wir alle mit uns herumschleppen, müssten wir ja Superman sein, wenn Angst denn wirklich eine Kraft wäre. Warum also lähmt die Angst uns so? Warum wird sie so selten als die magische Kraft erfahren, die sie ihrem Wesen nach ist? Angst bedeutet Grenze. Angst bedeutet, bekanntes Territorium zu verlassen. Angst ist, objektiv betrachtet, der Inbegriff von Aufregung und Abenteuer. Wir haben jedoch die Wertschätzung für das Unbekannte verloren, indem wir es mit Gefahr gleichgesetzt haben. Unser natürliches Bedürfnis nach Neuem und Unbekanntem wurde sukzessive durch Sicherheitsdenken zugedeckt und durch Konsumverhalten kompensiert.

Wir wollen Abenteuer, aber bitte kontrolliert. Wir wollen Unbekanntes, aber nur, wenn wir im Vorfeld sicher sein können, dass es uns auch gefallen wird. Unsere Stiefbeziehung zur Angst verhindert, dass wir wirkliche Zufriedenheit erfahren. Als Kraft ermöglicht Angst uns, in jedem Moment Erfüllung zu erfahren, schon durch die Unvorhersagbarkeit der kleinen Dinge! Die meisten Menschen kennen Angstkraft nicht. Sie kennen nur die Verteidigungsstrategien eines Systems, das Angst um jeden Preis vermeiden will.

Sie fühlen, wie ihr Körper sich zusammenzieht, der Atem stockt und wie sich ein Gefühl der Lähmung im ganzen System ausbreitet. Das soll eine Kraft sein? Ja, das ist sie, doch um das Wesen dieser Kraft zu erfahren, brauchen wir den Mut und die Bereitschaft, uns in unbekannte Bereiche zu begeben. Trotz unserer Angst, ohne zu wissen, was geschehen wird. Dann erfahren wir sie als Explosionskraft, die alte Grenzen sprengt. Dann erleben wir, dass sie ein Strom ist, der es uns ermöglicht, die Schwelle zum Unbekannten nicht nur wahrzunehmen, sondern der uns auch über diese Schwelle in den Raum des Neuen hineinträgt. Durch sie erweitern wir unsere Komfortzone, unseren Radius und unseren Handlungsspielraum. Dadurch offenbaren sich Möglichkeiten, die bislang nicht gegeben waren, da sie jenseits des Bekannten
lagen. Durch sie wachsen wir über uns selbst hinaus und entwickeln uns wie durch kaum eine andere Kraft. Und wir brauchen sie auch, um bedingungslos lieben zu können – wer weiß schon, welche Wesenszüge der andere morgen zur Schau stellen wird? Wenn ich mit der Angstkraft in mir auf gutem Fuße stehe, weiß ich, dass ich dem begegnen kann. Was immer es ist.

 Wir brauchen Angstkraft, um…

– kreativ zu sein.
– Auswege und Lösungen zu finden, wenn uns keine bekannt sind.
– unsere Lebensaufgabe zu finden.
– wirklich leben zu können
– Abenteuer zu erleben.
– uns auf das Ungewisse einzulassen und dem Mysteriösen zu öffnen.
– Grenzen zu überschreiten und über uns selbst hinauszuwachsen.
– uns zu entwickeln.

Wie Wut und Trauer Ist auch Angst für große wie für kleine Dinge da. Angst ist der winzige Moment der Aufregung, den ich empfinde, bevor ich einen Fremden auf der Straße anspreche, um nach dem Weg zu fragen. Wie wird er reagieren? Was ist das für ein Mensch? Werde ich in meinem Bedürfnis abgelehnt? Angst ist auch das Lampenfieber vor einem großen Auftritt, wo jede Zelle meines Körpers zu vibrieren scheint und alles in mir pure Aufmerksamkeit ist. Was wird geschehen, wenn ich auf die Bühne gehe? Wer sind diese Menschen, die mir da zusehen? Wie werden sie auf das, was ich zu teilen habe, reagieren? Und Angstkraft ist auch am Werk, wenn ich mich mit dem großen Unbekannten konfrontiert sehe: Wie werde ich am Monatsende die Miete zahlen? Was kommt bei der Untersuchung raus, wie wird mein Leben danach aussehen? Und natürlich die Begegnung mit dem ganz großen Mysterium, dem wir alle früher oder später gegenüber treten werden – dem Tod. Was erwartet uns? Ist danach wirklich alles vorbei? Stimmt das, was ich darüber glaube? Wird es wehtun? Angstkraft hilft uns, mit all diesen Situationen umzugehen, ihnen zu begegnen. Sie trägt uns über die Schwelle in den Bereich, der jenseits der Grenze auf uns wartet.

Gute Kraft, schlechte Kraft?

Angst ist weder eine gute noch eine schlechte Kraft. Wie jede andere Kraft kann sie uns dienen oder hinderlich sein, je nachdem, ob wir sie zu nutzen wissen oder nicht. In ihrem Schattenausdruck ist Angst lähmend. Statt uns über die Schwellen des Unbekannten zu tragen, lässt sie uns das Blut in den Adern gefrieren und dem Leben entfliehen. Ob es uns gelingt, Angst als Kraft zu nutzen, oder ob wir in den Fängen ihres Schattens gefangen bleiben, hängt wie bei den anderen Gefühlen auch von ihrem Antrieb und ihrer Ausrichtung ab.

Wenn Angstkraft fehlt

Die extremen Auswirkungen fehlender Angstkraft entdecken wir an Leuten, denen nicht nur die Bereitschaft, sondern organisch bedingt die Fähigkeit fehlt, Angst zu empfinden. Antonio Damasio, weltbekannter Neurobiologe mit Spezialisierung auf Emotionsforschung, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Phänomen, dass durch Schädigung bestimmter Hirnareale die Fähigkeit, bestimmte Gefühle zu erzeugen, abhandenkommen kann. Wird ein Teil des limbischen Systems, der sogenannte Mandelkern, etwa durch einen Tumor beschädigt, kann dies zur Folge haben, dass der Betreffende nunmehr unfähig ist, Angst zu empfinden.Er kann dieses Gefühl dann noch nicht einmal im Gesicht eines anderen Menschen erkennen, während er hingegen mit anderen Gefühlen wie Freude oder Trauer keine Schwierigkeiten hat.

Damasio schildert die Schwierigkeiten eines Lebens ohne Angst wie folgt: „Eine meiner Patientinnen war im Alltagsleben normal intelligent und unauffällig. Aber sie konnte keine Angst empfinden. Sie knüpfte sehr schnell Kontakte, auch zu Männern. Sie hatte eine extrem positive Einstellung zu allen, denen sie begegnete, Misstrauen kannte sie nicht. Statt aus schlechten Erfahrungen zu lernen, begegnete sie allen immer wieder ohne Arg und Reue dabei ständig auf miese Typen herein. Dieser Gefühlsausfall hatte also negative Auswirkungen auf ihre soziale Navigation.”

Fehlt diese Kraft in unserem System nicht wegen eines organischen Defizits, sondern weil wir uns weigern, sie zu erzeugen oder zu spüren, so haben wir keine wahrhaftige Wahrnehmung unserer Grenzen. Wir ergehen uns in omnipotenten Fantasien oder tun so, als wäre alles immer o.k. für uns. Wir spielen unverwundbar und sind nicht empfänglich für die Signale in uns, die sagen: „ Es reicht, es ist genug, hier kommst du nicht weiter, das ist zu viel für dich“. Gefühlen von Freude, von Richtigkeit, von Sorglosigkeit und Selbstsicherheit, die wir dann womöglich nach außen demonstrieren, fehlt es an Tiefe und Wahrhaftigkeit, Sie haben einen schalen Beigeschmack, so wie die synthetische Schönheit einer Barbiepuppe oder das Allmachtsgehabe von Rambo. Vor allem aber entbehren wir eine gewisse Lebendigkeit, die uns wachsen lässt, kreativ werden lässt. Wenn keine Situation für uns ausweglos oder furchtbar oder unlösbar erscheint, so gibt es keinen Impuls für eine Veränderung in uns. Wie wir uns definieren, bleibt statisch, da es von unserer Umgebung nicht tangiert wird. Wir bleiben stehen Jenseits derAngst und haben wie Damasios Patientin keine Möglichkeit, aus unseren Fehlern zu lernen.

Wenn wir zu viel Angst erzeugen

Wenn wir uns weigern, Angst zu haben, blenden wir unsere natürlichen Begrenzungen einfach aus und tun damit so, als wären sie nicht existent. Oft sind wir uns der Existenz dieser Grenzen jedoch schmerzlich bewusst, möchten aber eine Konfrontation mit ihnen um jeden Preis vermeiden. In diesem Fall ist die Erzeugung von Angst vor der Angst tatsächlichen eigenen Grenze wird eine zweite, künstliche, eingebaut, die sich Angst vor der Angst oder auch Erwartungsangst nennt. So wird zwar laufend die Interpretation getroffen, dass etwas furchtbar ist, jedoch bezieht sich diese Interpretation auf die Angst an sich. Was hinter dieser zweiten Angst verborgen liegt, ist eben genau das: verborgen. Wir müssen uns nicht damit befassen, da schon meilenweit davor alle Alarmglocken schrillen. Wir haben keinen Zugang zu dem, was uns ursprünglich Angst machte, dem Unbekannten. In unserem Kopf läuft eine Schlaufe, die man grob mit „Es ist furchtbar, weil es furchtbar ist“ beschreiben könnte. Angst wird zum Selbstläufer und lässt ohne Kontakt zu dem, was ist, das ganze System heißlaufen.

Dieser Mechanismus, die Angst vor der Angst, schaukelt sich oft im Lauf vieler Jahre immer weiter hoch, manchmal sogar so weit, dass das gesamte Leben davon bestimmt wird. Um diese Schlaufe zu durchbrechen, müssen wir uns bewusst machen, dass Angst durch Unbekanntes ausgelöst wird. Angst vor der Angst entsteht also, weil Angstkraft uns unbekannt ist. Wenn wir in Angst vor der Angst gefangen sind und Angst unser ganzes Leben bestimmt, glauben wir meist, die Angst zu kennen. Aber wir kennen nur die Vermeidungsstrategien unseres Systems, nicht die Angst selbst. Die Angst an sich ist uns unbekannt. Sie ist uns verborgen geblieben, primär dank unserer immer größer werdenden Anstrengungen, ihr zu entkommen. Wir können der Angst vor der Angst nicht entkommen, denn allein der Versuch erzeugt eine weitere Angst: die Angst vor der Angst vor der Angst. Um den Kreislauf zu durchbrechen, müssen wir innehalten und der Angst bewusst begegnen – der Angst an sich oder der Angst vor der Angst oder eben der Angst vor der Angst vor der Angst. Es ist immer die gleiche Kraft, die uns einlädt, Neues zu erfahren und uns auf Unbekanntes einzulassen. Wichtig ist daher die Erkenntnis, dass wir das, wovor wir fliehen, nicht kennen. Und wichtig ist auch, sich für die Möglichkeit zu öffnen, dass es die Flucht ist, die uns zermürbt, und nicht die Angst an sich.

Jenseits der Angst

Unsere Angst lädt uns ein, über die Grenzen des Bekannten hinauszugehen, neues Territorium zu betreten und uns auf eine Reise einzulassen, deren Verlauf wir nicht kennen. Die erweckte Angstkraft ist genau jene, die uns diesen Zugang schenkt. Wenn wir uns mit dieser Kraft unwohl fühlen, hat sie uns immer aus dem Unterbewussten im Griff. Erst wenn wir bereit sind, auch diese Kraft in uns zuzulassen und uns auf sie einzulassen, haben wir die Möglichkeit, durch sie unsere Begrenzungen zu überwinden. Und dann können wir erkennen, dass alles so richtig ist, wie es ist, inklusive unserer Angst. Die Möglichkeit bedingungsloser Freude tut sich auf.

Vivian Dittmar

Erschienen im Magazin einfach JA! (Ausgabe 08/17 – 09/17)

Vivian Dittmar ist Autorin mehrerer Bücher zu den Themen Gefühle und Beziehungen. Ihr Buch „Gefühle und Beziehungen – eine Gebrauchsanweisung“ ist den Kraft- und Schattenaspekte von Gefühlen gewidmet. Durch ihre Beiträge, Vorträge, Seminare und Online-Angebote engagiert sie sich seit zwei Jahrzehnten für eine holistische Entwicklung von Mensch, Gesellschaft, Wirtschaft und Bewusstsein. www.viviandittmar.net

Zum Weiterlesen:
Vivian Dittmar, Gefühle und Emotionen – eine Gebrauchsanweisung, edition est, 17,50 Euro

Vorheriger Beitrag
Gewaltfrei wütend – geht das?
Nächster Beitrag
Klarheit und das innere Navi
Menü