Bedingungslose Liebe ist eine hohe spirituelle FÀhigkeit. Doch unser Alltag, unsere Beziehungen spielen sich auf einer anderen Ebene ab. Autorin Vivian Dittmar schreibt, wie wir uns wirklich aufeinander beziehen können, mit allen Konflikten, die es gibt. Und warum WertschÀtzung so wichtig ist.
Ein weit verbreiteter Mythos zum Thema Liebe und Beziehungen ist jener, dass mit unseren Beziehungen alles in Ordnung wÀre, wenn wir nur fÀhig oder bereit wÀren, einander bedingungslos zu lieben. Meiner Erfahrung nach ist dies ausgemachter Unsinn, der jedoch tragische Konsequenzen hat, wenn er als Allheilmittel unserer Beziehungsthemen betrachtet wird.
Beleuchten wir den Mythos bedingungslose Liebe mal etwas genauer. Bedingungslose Liebe beschreibt die FĂ€higkeit und die Bereitschaft, einen oder alle Menschen anzunehmen, wertzuschĂ€tzen und zu wĂŒrdigen â egal, was sie tun oder wie sie sind.
In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass ich den SS-Mann im KZ genauso liebe wie den Papst oder mein eigenes Kind. Es handelt sich hierbei um eine FĂ€higkeit oder einen Bewusstseinszustand, der tatsĂ€chlich auĂergewöhnlich ist, den jedoch jeder Mensch nur zu einem gewissen Grad in sich entwickeln kann. Und zwar vor allem dann, wenn der Abstand stimmt.
Ein einfaches Beispiel dĂŒrfte dies verdeutlichen: ich kann einen Serienmörder hinter Gittern sehr aufrichtig in mein Herz schlieĂen. Ich kann sehr groĂes MitgefĂŒhl fĂŒr diesen Menschen spĂŒren, dessen eigene Kindheit höchstwahrscheinlich von Missbrauch und VernachlĂ€ssigung geprĂ€gt war.
Sehr viel schwieriger wird es, die gleiche Liebe zu spĂŒren, wenn dieser Mensch unerwartet mitten in der Nacht in meinem Schlafzimmer steht und Anstalten macht, mich umzubringen. In letzterer Situation wĂŒrde bedingungslose Liebe eine komplette Verleugnung meiner eigenen BedĂŒrfnisse voraussetzen â etwa meinem BedĂŒrfnis, weiterzuleben.
Doch natĂŒrlich hat die FĂ€higkeit, bedingungslos zu lieben, auch eine sehr schöne und wichtige Seite. Die FĂ€higkeit, jemanden oder alle bedingungslos in unser Herz zu schlieĂen ist eine hohe spirituelle Disziplin.
Indem wir lernen, unser Herz immer mehr aufzumachen und allem darin einen Raum zu geben, lösen wir Grenzen auf und ĂŒberwinden die Illusion der Trennung. Doch dies hat vor allem auf einer rein geistigen Ebene einen Platz. Auf jener Ebene, auf der alles eins ist, ist bedingungslose Liebe ein natĂŒrliches PhĂ€nomen.
Beziehung ist bedingt
Unsere Beziehungen spielen sich jedoch nicht auf jener Ebene ab, sie spielen sich vordergrĂŒndig hier ab: auf der physischen Ebene, auf der psychologischen Ebene, in einer Welt, wo du und ich BedĂŒrfnisse haben, aufeinander angewiesen sind, einander Versprechen geben, diese brechen, einander ewige Liebe schwören und diese dann verraten.
Auf dieser ganz irdisch-menschlichen Ebene kann ein Bewusstsein jener anderen Ebene des All-eins-seins zwar hilfreich sein, um Frieden mit WidersprĂŒchen und Konflikten zu schlieĂen. Es ist jedoch keine Lösung fĂŒr diese WidersprĂŒche und Konflikte, die immer noch unsere Aufmerksamkeit fordern.
Ăbertragen auf eine Partnerschaft oder andere Beziehungen bedeutet das Prinzip der bedingungslosen Liebe als Allheilmittel, dass eben auch jedes Verhalten und jeder Wesenszug unseres Partner einfach nur bejaht wird und dass dann alles in Ordnung ist.
Jedes Problem in einer Beziehung wird dann auf die eigene UnfĂ€higkeit â oder die des anderen â zurĂŒckgefĂŒhrt, nicht ausreichend liebesfĂ€hig zu sein. Doch wer so denkt, verkennt eine wichtige Unterscheidung von Liebe und Beziehung: Liebe kann bedingungslos sein, Beziehung nicht.
TatsĂ€chlich ist es so, dass wir Beziehung vermeiden, wenn wir uns auf Wolke sieben der bedingungslosen Liebe zurĂŒckziehen und alles nur noch mit einem selig-gĂŒtigen LĂ€cheln quittieren. Wir hören de facto auf, uns auf andere zu beziehen, denn sich zu beziehen ist nunmal eine zutiefst duale Angelegenheit.
Ich beziehe mich auf dich oder auf jemand anderen. Ich beziehe mich in einer Weise, die dich in deinem Sein bestĂ€rkt oder behindert. Ich sage dir, dass ich es mag oder eben nicht, wenn du mir den RĂŒcken kraulst, dich fĂŒr Umweltschutz engagierst oder mit Aktien spekulierst.
Diese duale Form der Liebe ist nicht bedingungslos, sie ist jedoch in hohem MaĂe beziehungsstiftend. FĂŒr diese Form der Liebe gibt es auch ein ganz eigenes Wort: es handelt sich um WertschĂ€tzung.
WertschÀtzung stÀrkt jede Beziehung
Wie der Begriff WertschĂ€tzung bereits ausdrĂŒckt, messen wir durch unsere WertschĂ€tzung einem Menschen, einer seiner Eigenschaften oder TĂ€tigkeiten, Wert bei und schĂ€tzen diesen.
Wenn ich also beispielsweise an meiner guten Freundin ihre FĂ€higkeit, zuzuhören wertschĂ€tze, so liegt das klarerweise daran, dass meine Freundin mir mit dieser FĂ€higkeit ein zentrales BedĂŒrfnis erfĂŒllt. Genauso kommt es vor, dass ich einen ganzen Menschen wertschĂ€tze, denn es ist mir ein BedĂŒrfnis, dass es Menschen gibt, die genau so wie dieser Mensch sind.
Wenn meine Freundin plötzlich nicht mehr zuhören kann oder der geschÀtzte Mensch sich komplett verÀndert, wird meine WertschÀtzung womöglich aufhören. Sie ist eben nicht bedingungslos. Das ist zwar nicht so romantisch, hat jedoch einen anderen entscheidenden Vorteil: es ist auch nicht so beliebig.
Wenn mir jemand WertschĂ€tzung entgegen bringt dann weiĂ ich, dass ich gemeint bin. Der andere findet genau diese oder jene Eigenschaften oder Verhaltensweisen an mir richtig, gut und schön! Das bestĂ€rkt mich in diesen Eigenschaften und gibt mir Orientierung, was an meinem Wesen anderen Freude macht, was ihnen gut tut. Dennoch bin ich frei zu entscheiden, ob ich meiner Freundin weiter den RĂŒcken kraule oder nicht, egal wie sehr sie sich darĂŒber freut.
WertschĂ€tzung ist also immer mit Respekt verknĂŒpft. Ich verwende hier auch gerne das Bild eines flauschigen Teppichs, den wir auf das solide Fundament unseres Respekts legen können. Je dicker der Teppich der WertschĂ€tzung, den wir fĂŒreinander weben, desto weicher und wohliger fĂŒhlen wir uns in der Beziehung.
Und wenn dann eine emotionale Ladung hochgeht â was zu Beziehungen einfach dazugehört â dann kann es schon mal passieren, dass wir dem anderen diesen Teppich unserer WertschĂ€tzung entziehen.
Das ist auch in Ordnung, so lange das Fundament aus Respekt darunter intakt bleibt. Es ist ein essenzieller Teil von Inbeziehungsein zu sagen: das mag ich, das mag ich nicht. Und unsere WertschÀtzung ist direkter Ausdruck davon.
Aber wie können wir einen solchen Teppich der WertschÀtzung weben? In jeder lÀngeren Beziehung droht genau das, was uns zu Beginn am anderen verzaubert hat, selbstverstÀndlich zu werden. Wir sehen immer mehr, was uns nicht passt. Um dem entgegenzuwirken kann eine konkrete WertschÀtzungspraxis hilfreich sein.
Diese kann ganz unterschiedliche Formen annehmen, etwa indem wir uns einmal die Woche bewusst Zeit miteinander nehmen, um konkret auszudrĂŒcken, was wir aneinander schĂ€tzen.
Genauso können wir alleine praktizieren, zum Beispiel mit einem kleinen BĂŒchlein, in das wir einmal am Tag etwas notieren, was wir an unserem Partner, unserer Partnerin schĂ€tzen oder was uns heute im Zusammensein Freude gemacht hat. Dies Ă€ndert unseren Blick und unsere Haltung, wodurch es die Beziehung verĂ€ndert.
Diese Ăbungen sind natĂŒrlich besonders herausfordernd, wenn wir gerade eine Beziehungskrise durchleben â und genau dann sind sie besonders wichtig. Und zwar nicht, um Konflikte unter diesen flauschigen WertschĂ€tzungsteppich zu kehren, sondern um sie respektvoll und mit offenem Herzen angehen zu können.
Veröffentlicht im Netzwerk Ethik Heute (28. Juni 2021)
Als Autorin und Impulsgeberin fĂŒr kulturellen Wandel engagiert Vivian Dittmar sich seit zwei Jahrzehnten fĂŒr eine ganzheitliche Entwicklung von Mensch, Gesellschaft, Wirtschaft und Bewusstsein. Mehr Informationen unter www.viviandittmar.net und www.lebensweise.net.