Welt im Umbruch

Die Welt ist im Umbruch. Der Blick in die Leitmedien und die sozialen Netzwerke zeigt, wie Chaos, Ungewissheit, Komplexität und Verwirrung zunehmen, und mit ihnen die Sehnsucht nach einfachen Antworten. Neben Populisten und Verschwörungstheoretikern haben Weltuntergangspropheten und Wendezeitverkünder Hochkonjunktur. Aber seit 2012 weiß doch ehrlich gesagt niemand mehr, was er wirklich von ihnen halten soll, oder?

Ein neues Zeitalter?

Manche sehnen den großen Crash herbei, durch den die überholten Systeme endlich in den wohlverdienten Ruhestand katapultiert würden, ohne sich wirklich Gedanken darüber zu machen, wie es danach weitergehen soll. Andere scheinen still auszuharren, hoffend und betend, dass sie selbst vorher das Zeitliche segnen. Gerne wird hier auf die Jugend, die nächste Generation verwiesen, die das dann alles auszubaden hat – oder die es schon irgendwie richten wird.

Doch neben diesem schwarzen Bild, das ich soeben gezeichnet habe, gibt es noch eine andere Perspektive, eine andere Geschichte sozusagen. Es ist dies die Geschichte des „Großen Wandels“. Geprägt hat diesen Begriff die Tiefenökologin Joanna Macy. Von Wendezeitpropheten grenzt sie sich angenehm ab, da sie den Anbruch eines neuen Zeitalters nicht als etwas Gegebenes betrachtet. Vielmehr sagt sie, dass es an uns liegt, ob die Epoche, in der wir leben, als die Zeit des Großen Wandels in die Geschichte eingehen wird oder nicht. Wir entscheiden, ob wir die globale Apokalypse oder das Aufblühen einer neuen Zivilisation erleben wollen. Der Große Wandel ist eine Möglichkeit, keine vorgegebene Zwangsläufigkeit.

Ist der Große Wandel möglich?

Vor die Frage gestellt, ob wir den Weltuntergang oder ein neues Paradigma erleben möchten, dürfte die Antwort relativ leicht fallen. Problematisch wird es bei der Frage, ob ein solcher Wandel überhaupt möglich ist. Nüchtern betrachtet scheint er doch ziemlich unwahrscheinlich. Mehr noch: Es scheint absurd und hirnrissig, in Anbetracht unserer kollektiven Vorgeschichte diese Möglichkeit allen Ernstes in Erwägung zu ziehen. Es ist, als würde man einen vielfach vorbestraften Schwerkriminellen aus der Haft entlassen und einfach davon ausgehen, dass er es ab jetzt besser machen wird. Großer Wandel, ja, doch wohl kaum zu einer lebenswerteren Zukunft – das ist die Haltung, die mir vielerorts entgegenschlägt.

Der amerikanische Kulturphilosoph Charles Eisenstein hat dieses Phänomen sehr schön auf den Punkt gebracht: Sein Kopf, sagt er, hält einen solchen Wandel für unmöglich. Doch wenn er sein Herz fragt, dann weiß dieses mit überraschender Klarheit, dass eine bessere Welt möglich ist. Er beschreibt damit das Spannungsfeld, in dem wir heute leben: der Pessimismus, die Resignation, die Verwirrung und Festgefahrenheit unseres Verstandes, in krassem Kontrast zu der stillen Weisheit und dem tiefen Sehnen unseres Herzens.

Diese Sehnsucht zuzulassen ist ein Schlüssel dafür, den Großen Wandel möglich zu machen. Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn eine Sehnsucht zuzulassen, dazu noch eine von solcher Größe, bringt uns auch mit unserem Schmerz in Kontakt. In diesem Fall mit dem Schmerz über die Welt, wie sie jetzt gerade ist.

Doch nicht nur die Sehnsucht ist laut Joanna Macy ein Schlüssel, auch der Schmerz ist es. Genau dieser Schmerz, den wir ständig loswerden wollen, indem wir ihn betäuben, rationalisieren, therapieren oder versuchsweise wegmeditieren. Die Wurzel dieses Schmerzes ist unsere Liebe für diese Welt. Wenn wir nicht bereit sind, den Schmerz zu fühlen, dann bleibt uns auch diese Liebe verschlos-sen. Und es ist genau diese Liebe, durch die der Große Wandel erst möglich wird.

Den großen Wandel sehen lernen

Neben der Bereitschaft, den eigenen Schmerz zu fühlen, braucht es auch die Erkenntnis, dass der Große Wandel nicht nur möglich ist, sondern dass er bereits in vollem Gange ist. Nur wenn wir lernen, den Großen Wandel zu sehen, können wir es ertragen, uns unserer Sehnsucht zu öffnen. Joanna Macy sagt, dass den Großen Wandel zu sehen eine spirituelle Praxis sein kann. Wie jede spirituelle Praxis braucht sie Übung – und sie kann in Zeiten des Umbruchs unsere Rettung sein.

Solange die einzige Perspektive, die wir auf das Weltgeschehen haben,
jene der Apokalypse, der Resignation, der kontinuierlichen Verschlechterung ist, so lange ist es absoluter Irrsinn, unsere zerbrechlichen Herzen dem Weltschmerz auszuliefern. Erst wenn wir gelernt haben, die Zeichen des Wandels zu sehen, können wir es wagen, diesen Schritt zu machen, ohne von der Hoffnungslosigkeit der Situation überwältigt zu werden.

Doch das bedeutet nicht, die Weltlage in rosaroten Farben zu übertünchen und selig lächelnd auf die Ankunft des Goldenen Zeitalters zu warten. Es bedeutet, inmitten des Irrsinns und der sich zuspitzenden Unwägbarkeiten das Neue zu erkennen, das sich wie ein zartes Pflänzchen durch die Risse im Asphalt seinen Weg bahnt, und es zu stärken. Es bedeutet, zu sehen, wie stark die Werte und das Bewusstsein der Menschen sich in den letzten Jahrzehnten verändert haben, wie neue Strukturen entstehen, die Althergebrachtes in Frage stellen. Es bedeutet, geerdete Hoffnung zu kultivieren und auf das zu lauschen, was unsere Herzen als möglich erachten.

Kollaps und Wandel

Doch wie können wir auf die kleinen Pflänzchen des Wandels blicken, während die entfesselten Zerstörungsmaschinerien einer zombiegleichen Menschheit mit erschreckender Geschwindigkeit auf den Abgrund zurasen? Anders ausgedrückt: Welchen Platz hat dieser Irrsinn in der Geschichte des Großen Wandels? Und ist es nicht völlig absurd zu glauben, dass irgendeines dieser kleinen Pflänzchen im Angesicht der zerstörerischen Maschinerie eine Überlebenschance oder gar Relevanz haben sollte? Um es konkret zu machen: Welchen Sinn macht es, konsequent bio einzukaufen, wenn die Welt am nuklearen Abgrund steht?

Charles Eisenstein bringt in seinem epochalen Werk „Renaissance der Menschheit” das volle Ausmaß dieses Widerspruchs gekonnt auf den Punkt: „Es ist nicht mein Ziel, dir Hoffnung zu machen, dass diese Krisen abgewendet werden können. Sie können es nicht, denn die Dinge, die geschehen müssen, um sie abzuwenden, werden erst als Folge dieser Krisen geschehen.” Mit anderen Worten: Der Bewusstseinswandel, der Voraussetzung für ein neues Paradigma ist, wird im großen Stil erst durch die sich zuspitzenden Krisen eintreten.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Eskalationen, die wir heute in vielen Bereichen beobachten, zwar schwer auszuhalten, aber offensichtlich notwendig sind. Manchmal muss es schlimmer werden, bevor es besser werden kann. Doch das soll kein Plädoyer sein, die Hände in den Schoß zu legen und vom Fernsehsessel aus den Weltuntergang zu beobachten. Im Gegenteil: Jetzt ist die Zeit, uns klar auszurichten, Kontakt mit unseren Herzen aufzunehmen und das in die Welt zu bringen, was uns wirklich wichtig ist.

Die kleinen Pflänzchen nähren

Die Zeichen des Großen Wandels sind wichtig, genau wie die kleinen Pflänzchen eines neuen Paradigmas. Sie wollen gehegt, gepflegt und kultiviert werden. Denn im Gegensatz zu der Zerstörungsmaschinerie der Menschheit sind sie in lebendige Systeme eingebettet, gehorchen natürlichen Gesetzmäßigkeiten und sind damit in hohem Maße zukunftsfähig – inmitten von Zerstörung, Chaos und Apathie. Vielleicht ist das die wahre Bedeutung des berühmten Lutherzitats: „Auch wenn ich wüsste, dass morgen die Welt zugrunde geht, würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen.”

Erschienen im Prisma Magazin, Ausgabe 77 (2017).

Vivian Dittmar ist Autorin mehrerer Bücher zu den Themen Gefühle und Beziehungen. Durch ihre Bücher, Vorträge, Seminare und Online-Angebote engagiert sie sich seit zwei Jahrzehnten für eine holistische Entwicklung von Mensch, Gesellschaft, Wirtschaft und Bewusstsein. www.viviandittmar.net

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