UNSERE CHANCE: WOHLSTAND NEU DENKEN
Eine Reise durch Zeit, KreativitĂ€t und Ăkologie
Bald ist es fĂŒnfzig Jahre her, seit uns der legendĂ€re Bericht des Club of Rome zu den âGrenzen des Wachstumsâ darauf aufmerksam machte, dass es so nicht weitergehen kann. Nicht jede einzelne Vorhersage ist genauso eingetroffen, wie in dem Bericht postuliert, doch das ist nebensĂ€chlich. Viel wichtiger ist, dass wir es seit fĂŒnfzig Jahren versĂ€umt haben, den entscheidenden Richtungswechsel zu vollziehen, der eine zukunftsfĂ€hige Zivilisation ermöglichen wĂŒrde. Warum? Wie kann es sein, dass wir direkt auf eine Klippe zusteuern und dennoch nicht zu einer Kurskorrektur bereit sind?
Es gibt auf diese Frage sicher nicht nur eine Antwort, da sie sehr komplex ist. UnzĂ€hlige Faktoren, Interessenskonflikte, Gewohnheiten, Annahmen, VerdrĂ€ngungsmechanismen und vieles mehr spielen hier zusammen. Theoretisch können wir noch dreiĂig Jahre darĂŒber diskutieren, praktisch fehlt uns die Zeit dafĂŒr. Gemein haben die vielen AnsĂ€tze, dass sie das Problem gerne verlagern: Unternehmen sehen die Verantwortung bei den Konsumierenden, BĂŒrger bei den Politikerinnen, die Jungen bei den Alten und umgekehrt. Viele meinen, jeder mĂŒs- se eben bei sich anfangen â wohl wissend, dass den meisten das viel zu unbequem ist und ohnehin nur funktioniert, wenn alle mitziehen. Also geschieht im GroĂen und Ganzen nichts, wĂ€hrend weiterdiskutiert wird. Und in gewisser Weise scheint das allen ganz recht zu sein, denn solange wir uns nicht einig sind, was es zu tun gilt, machen wir eben weiter wie bisher. Ja, klar, ein bisschen schlechtes Gewissen haben wir schon dabei, aber was soll ein Einzelner denn groĂ verĂ€ndern?
LebensqualitÀt statt Materialismus
Ich möchte zu einer neuen Betrachtungsweise einladen. Wie wĂ€re es, wenn wir unseren Wohlstandsbegriff grundlegend hinterfragen? Könnte es nicht sein, dass vieles von dem, woran wir uns verzweifelt klammern, eigentlich ĂŒberflĂŒssig ist? Und könnte es nicht ebenso sein, dass unser einseitiges Streben nach materiellem Wohlstand uns zwingt, auf nichtmaterielle Formen von Wohlstand zu verzichten, die fĂŒr unser Wohlergehen und GlĂŒck jedoch von ĂŒbergeordneter Bedeutung sind? Anders ausgedrĂŒckt: Was wĂ€re, wenn wir die vielfĂ€ltigen Krisen unserer Zeit nutzen wĂŒrden fĂŒr einen Kurswechsel hin zu mehr LebensqualitĂ€t? Und wie könnte das konkret aussehen?
Ich schlage einen Wohlstandsbegriff in fĂŒnf Dimensionen vor, der jene Aspekte des Lebens abdeckt, die in traditionellen Kulturen ganz selbstverstĂ€ndlich gegeben waren und uns heute schmerzlich fehlen: Zeit, gesunde Beziehungen, gelebte KreativitĂ€t und SpiritualitĂ€t, sowie eine lebendige, tragfĂ€hige Verbindung mit der Natur. Ich nenne das âechten Wohlstandâ. Dieser hat nichts mit Kontostand oder gesellschaftlichem Status zu tun, er macht jedoch unsere LebensqualitĂ€t aus.
Die fĂŒnf Elemente echten Wohlstands
Zeitwohlstand: die Chance, zu entschleunigen
Das Empfinden, keine Zeit zu haben, ist bei uns so weit verbreitet, dass es eigentlich schon normal ist. Dabei ist Zeit nicht etwas, das man hat oder nicht. Sie ist ein PhĂ€nomen, das wir erleben und dem wir alle unterworfen sind. Doch je mehr wir versuchen in einen Tag, eine Woche oder einen Monat hineinzupacken, desto weniger Zeit scheinen wir zu haben. Zeitwohlstand erschlieĂt sich also nicht durch Beschleunigung, sondern durch das genaue Gegenteil. Indem wir bewusst entschleunigen und dabei auch lernen, regelmĂ€Ăig innezuhalten, erkennen wir neu, was gerade wirklich wichtig ist. Modelle wie die Postwachstumsökonomie sehen eine Wochenarbeitszeit von zwanzig Stunden Erwerbsarbeit pro Woche vor, so dass Zeit bleibt fĂŒr Beziehungspflege, politisches Engagement und die Entfaltung unserer Talente.
Beziehungswohlstand: die Chance, uns wieder nÀher zu kommen
Die Anzahl und StabilitĂ€t naher Beziehungen hat in den letzten Jahrzehnten in den reichen Industrienationen bestĂ€ndig abgenommen. Wir vereinzeln und vereinsamen immer mehr, mit verheerenden Folgen fĂŒr unsere Gesundheit und den sozialen Zusammenhalt.
Beziehungswohlstand entsteht, wenn wir unseren Verbindungen mit anderen Menschen wieder bewusst eine hohe PrioritĂ€t einrĂ€umen und neue Netzwerke entstehen lassen, die uns wirklich tragen â das gilt im Job genauso wie privat. Ein erster Schritt darin kann sein, dass wir bewusst darauf verzichten, Probleme mit Geld zu lösen, und statt dessen bewusst auf Kooperationen setzen. Sich in dieser Form aufeinander zu verlassen, ist ein natĂŒrliches menschliches BedĂŒrfnis und schafft ein völlig anderes Erleben von Sicherheit.
KreativitÀtswohlstand: die Chance, Arbeit neu zu entdecken
In einer Zeit, wo wir auf Knopfdruck die weltbesten SĂ€ngerinnen, Schauspieler und Entertainer prĂ€sentiert bekommen, scheinen die Talente von unzĂ€hligen Menschen tragisch ĂŒberflĂŒssig. Ăhnliches ist im handwerklichen Bereich geschehen: Jedes Produkt ist heute nur einen Mausklick entfernt, warum also noch etwas selber machen? Diese Entwicklung verkennt, dass der kreative Akt an sich fĂŒr uns Menschen von ĂŒbergeordneter Bedeutung ist. Nur dort entsteht jener magische Zustand, der in der GlĂŒcksforschung als Flow bezeichnet wird: Wir verlieren uns komplett in einer TĂ€tigkeit, vergessen Hunger, Durst, Profitdenken und Zeit. Und vor allem: Wir sind glĂŒcklich! In den KreativitĂ€tswohlstand eines Unternehmens oder einer Gesellschaft zu investieren, kann beispielsweise bedeuten, Produktionsprozesse bewusst so zu gestalten, dass sie möglichst viele Menschen einbinden statt möglichst wenige und dass die anfallende Arbeit Freude macht.
Spiritueller Wohlstand: die Chance, Sinnvolles zu tun
In vielen traditionellen Kulturen war SpiritualiĂ€t ein ganz selbstverstĂ€ndlicher Teil des Alltags. Es war keine Glaubensfrage, sondern eine Lebensweise. Diese gab Menschen auch in schwierigen Zeiten Halt und nĂ€hrte sie auf eine ganz eigene, von auĂen schwer nachvollziehbare Art.
Heute entdecken immer mehr Menschen auch in unserem Kulturkreis neu, wie wichtig eine solche innere Anbindung an das Leben ist. Sie praktizieren Yoga oder Achtsamkeit, pilgern auf dem Jakobsweg oder integrieren einfache Rituale in ihren Tagesablauf. Unternehmen investieren in spirituellen Wohlstand, wenn sie sich auf eine sinnstiftende Mission ausrichten und ihren Erfolg in Wirksamkeit statt in Profit messen.
Ăkologischer Wohlstand: die Chance, unsere Beziehung zur Natur zu heilen
Die Annehmlichkeiten des modernen Lebens haben uns zunehmend von den vielfĂ€ltigen Verbindungen entfremdet, die uns erhalten. MobilitĂ€t und Digitalisierung machen uns ortsunabhĂ€ngig, globale Lieferketten sorgen dafĂŒr, dass wir keinerlei Bezug mehr zu den UrsprĂŒngen unserer Nahrung und anderer Produkte haben, die unsere essentiellsten BedĂŒrfnisse stillen. Das alles ist natĂŒrlich sehr praktisch, doch es fĂŒhrt zugleich zu einer groĂen Halt- und Bezugslosigkeit â von den verheerenden Folgen fĂŒr die Ăkosysteme ganz zu schweigen. Ăkologischer Wohlstand bedeutet nach und nach, alle Verbindungen zu heilen, die uns erhalten, und neue, gesunde Beziehungen aufzubauen. FĂŒr Unternehmen kann Investition in ökologischen Wohlstand beispielsweise bedeuten, Schritt fĂŒr Schritt alle Wertschöpfungsketten in Kreislaufprozesse umzustellen.
Ziel: langsamer â tiefer â nĂ€her
Wenn wir uns auf diese fĂŒnf Dimensionen von nicht-materiellem Wohlstand ausrichten, wird unser Leben auf eine völlig neue Weise reich: an Zeit, an Beziehungen, an KreativitĂ€t, an Kontakt mit dem Mysterium des Lebens und der unbĂ€ndigen Schönheit der Natur. An die Stelle des altbekannten Schneller-Höher-Weiter tritt ein neues Langsamer-Tiefer-NĂ€her.
Die Pionierunternehmen der Nachhaltigkeitsszene haben seit Jahrzehnten Best-Practice-Beispiele entwickelt, wie unternehmerischer Erfolg aussehen kann, der bewusst diese nicht-materiellen Wohlstandsformen an erste Stelle setzt, und zwar fĂŒr alle Stakeholder. Jetzt ist es an der Zeit, dass der Rest der Gesellschaft und der Wirtschaft nachziehen, damit wir gemeinsam aus der gröĂten Herausforderung aller Zeiten die gröĂte Chance machen. Denn: Ein wirklich gutes Leben steht nicht im Widerspruch zu dem dringend notwendigen ökosozialen Wandel, sondern wird im Gegenteil dadurch erst ermöglicht.
Erschienen in: Forum nachhaltige Wirtschaft, das Entscheidermagazin
ISSN 1865-4266Â (April 2021)
Vivian Dittmar ist eine anerkannte Expertin fĂŒr das Thema emotionale Intelligenz, Autorin und GrĂŒnderin der Be the Change- Stiftung fĂŒr kulturellen Wandel. Durch ihre BĂŒcher, VortrĂ€ge, Seminare und Online-Angebote engagiert sie sich seit zwei Jahrzehnten fĂŒr eine holistische Entwicklung von Mensch, Gesellschaft, Wirtschaft und Bewusstsein. www.viviandittmar.net