Warum logisches Denken alleine nicht mehr reicht
„Logisch!“ In den vergangenen Jahrhunderten hat logisches Denken uns als Menschheit geniale Erfindungen beschert, Überleben gesichert und die Lebensqualität ungemein bereichert. Dabei war leicht zu übersehen, dass es weitere Denkformen gibt, die für eine Navigation in der modernen Welt unabdingbar sind. Vivian Dittmar spricht gar von fünf Disziplinen des Denkens.
Wir leben in einer Zeit rasanter Beschleunigung. Nicht nur die Leistungsfähigkeit unserer Computer und Smartphones nimmt ständig zu, auch die Anforderungen an uns Menschen steigen unablässig. Doch nicht nur das: Die Veränderungsgeschwindigkeit hat einen Punkt erreicht, wo viele Faktoren auf unvorhersehbare Weise interagieren, dass klassische Planung und Vorhersagen zunehmend schwieriger werden.
Zwar werden vielerorts die klassischen Fünfjahresstrategien noch in alter Manier ausgearbeitet – es ist jedoch jedem klar, dass aktuelle Entwicklungen unsere Planungen innerhalb kürzester Zeit zu netten Planspielen deklassieren. Unser rationaler Verstand ist in dieser komplexen Ausgangslage heillos überfordert und klammert sich doch zugleich an vertraute Rituale, wie ein Kind an seine Bettgehroutine. Er plant weiter, als wäre die Welt noch die alte und würde sich in vertrauten Bahnen weiterbewegen. Doch dieser Kurs ist gefährlich und übersieht dabei, dass der Mensch eigentlich zu viel mehr fähig wäre. Denn wir Menschen verfügen über ein viel umfassenderes Repertoire, ein inneres Navi, das uns gerade in Zeiten wie diesen unterstützen und führen kann.
Unser inneres Navigationssystem
Dieses Navi funktioniert natürlich über unser Denken, jedoch nicht über das rein rationale Denken, sondern über ganzheitliches oder wie ich es nenne: transrationales Denken. Dieses schließt andere trainierbare Denkweisen, wie Intuition, Inspiration und die Herzintelligenz mit ein, die einer ganz eigenen Logik folgen und Zugriff auf andere Informationen haben als die klassische Ratio. Ich spreche hier gerne von den fünf Disziplinen des Denkens (siehe Grafik).
Die Denkprozesse, die auf der Vertikalen angesiedelt sind – die Inspiration, die Herzintelligenz und die Intuition – erfolgen spontan und aus dem Moment heraus. Sie sind nicht-linear. Diese Disziplinen sind ein unverzichtbares Element, wenn es um Kreativität, Co-Creation, WeQ … und andere wichtige Kompetenzen für die moderne Arbeitswelt geht. Sie sind zugleich in unserem Kulturkreis bei nahezu allen Menschen stark unterentwickelt. Das wiederum liegt vor allem an der einseitigen Überbetonung der Ratio, die vom frühesten Kindesalter bei uns stark trainiert wird, ohne anderes zu sehen, zu verstehen und zu fördern. Diese fehlende Entwicklung führt zu fehlender Kreativität, Orientierungslosigkeit, Verwirrung und fehlendem Sinnerleben.
Die auf der Horizontalen angesiedelten Disziplinen – die Ratio und die Absicht – verankern die Informationen und Impulse der vertikalen Disziplinen in Zeit und Raum.
Während Inspiration, Intuition und Herzintelligenz nicht-linear sind, sind die Ratio und die Absicht linear. Die Ratio ist sehr gut darin die Logistik, die Machbarkeit und die konkrete Umsetzung zu handhaben. Die Absicht hingegen richtet uns klar aus, ohne uns in allzu engen Zielvorstellungen oder gar Fünfjahresplänen zu verstricken.
Merkmale Transnationalen Denkens
Wer Macht abgeben oder teilen muss, wird immer mit der Angst vor Kontrollverlust konfrontiert. Das geht unserem Verstand nicht anders. Da das schwer auszuhalten ist, kommt es immer wieder zu Versuchen des Verstandes, transrationale Denkweisen zu imitieren. Das war bei mir nicht anders. In schöner Regelmäßigkeit versuchte mein Verstand, mir seine eigenen Ängste, Projektionen, Interpretationen oder Wunschträume als waschechte Intuition oder Inspiration unterzujubeln. Das war, denke ich, gar nicht böse gemeint, sondern eher ein unbeholfener Versuch, mir zu helfen. Woran also erkennen wir echtes transrationales Denken? Worin unterscheidet es sich von jenen womöglich gut gemeinten Imitaten, die der Verstand uns anbietet? Im Kasten habe ich fünf Grundmerkmale transrationalen Denkens aufgelistet, die alle Denkdisziplinen weitgehend gemeinsam haben und die diese von der Ratio unterscheiden.
1. Nicht-Linearität
Der rationale Verstand fühlt sich sicher, wenn Gedanken logisch aufeinander aufbauen. Er denkt in Gedankenketten, wo eines auf das andere folgt. Nicht-Linearität ist beunruhigend, weil sie genau das, was unserem Verstand Sicherheit gibt, schmerzlich vermissen lässt. Hier folgt nicht eines aufs andere, es ergibt sich nicht eines aus dem anderen, es taucht vielmehr etwas ziemlich unvermittelt und unverbunden auf. Es ist nicht assoziativ. Wenn jemand fragt, wie man auf das Thema kam, lässt sich diese Frage nicht für andere nachvollziehbar beantworten. Ich
sage dann gerne „Es kam mir gerade”.
2. Rational nur begrenzt Nachvollziehbar
Heute weiß ich, dass Denkinhalte, die meinen Verstand irritieren, eine besondere Aufmerksamkeit verdient haben. Gerade dieses Merkmal, das früher dazu führte, dass diese Inhalte nicht ernst genommen wurden, ist also heute eines der zentralen Kriterien, um transrationale Denkinhalte zu erkennen. Das bedeutet natürlich nicht, dass jeder Blödsinn, der einem ins Hirn flattert, als Geniestreich zu werten ist. Doch es ist ein Merkmal, das mich heute einem Gedanken Aufmerksamkeit schenken lässt.
3. Non-Verbal
Transrationales Denken ist jenseits von Worten. Es spielt sich auf einer abstrakten Ebene ab, die erst in einem zweiten Schritt vom rationalen Verstand formuliert wird. Und nicht immer wird sie in Worten formuliert. Wenn es sich um eine Inspiration für ein Musikstück oder eine Choreographie handelt, wird diese in Tönen, in Bewegungen, in Abläufen formuliert. Oder bei einem Kochrezept in Geschmacksnuancen, in Zutaten, in Maßeinheiten. Doch der ursprüngliche Denkinhalt ist non-verbal, abstrakt, eher
wie eine Gestalt oder ein Gebilde..
4. Schlicht, subtil, höflich
Ein besonders markantes und faszinierendes Merkmal transrationaler Denkinhalte ist ihre Schlichtheit. Sie zeigen sich auf einmal (nicht-linear) und sind in ihrem Wesen einfach und klar. Das bedeutet nicht, dass sie immer entsprechend einfach zu formulieren sind. Besonders wenn es sich um Inspiration handelt, merken wir oft erst im zweiten Schritt, wo wir versuchen, den Inhalten Form zu geben, wie viele Informationen in der scheinbar schlichten Gestalt stecken. Doch die erste Gestalt ist schlicht, subtil und höflich.
5. Beharrlich
Das letzte Merkmal in meiner Auflistung ist das der Beharrlichkeit und Beständigkeit. Ein echter und relevanter transrationaler Denkinhalt taucht zwar ganz unvermittelt auf, scheinbar aus dem nichts, doch er verschwindet nicht einfach so sang- und klanglos wie er gekommen ist.
Die Welt ist nicht mehr die alte. Sie verändert sich rasant. Es ist an der Zeit mehr als nur Ratio und Absicht zu bedienen und das volle Potenzial unserer Mitarbeiter und Unternehmen zu entdecken. Das nächste Mal, wenn etwas unvermittelt auftaucht, hören Sie doch mal hin….
Erschienen auf Expand.eu
Vivian Dittmar ist eine anerkannte Expertin für das Thema emotionale Intelligenz, Autorin und Gründerin der Be the Change- Stiftung für kulturellen Wandel. Durch ihre Bücher, Vorträge, Seminare und Online-Angebote engagiert sie sich seit zwei Jahrzehnten für eine holistische Entwicklung von Mensch, Gesellschaft, Wirtschaft und Bewusstsein. www.viviandittmar.net