Klima und Corona: Zwei Krisen, acht Parallelen

In der Corona-Krise wird so entschlossen gehandelt, wie wir es noch nie erlebt haben. Warum ist das nicht auch in der Klimakrise möglich? Vivian Dittmar, Gründerin der Be the Change Siftung, sieht erstaunliche Parallelen und erklärt, was wir heute lernen können für den Umgang mit der Erderwärmung.

Zusammenfassung: Die Krisen häufen sich und wir scheinen als Gesellschaft kaum hinterher zu kommen, jede für sich zu lösen. Der Artikel beleuchtet, was die Herausforderungen gemein haben und zieht acht Parallelen zwischen der Klima- und der Corona-Krise. Denn wir können angemessen handeln, wenn wir besser verstehen, worum es im Kern aller Krisen geht.

 Die 8 Parallelen im Überblick:

1. Die Kipp-Punkte: Wie bei Corona, so ist es auch beim Klima: Wenn wir die Auswirkungen spüren, könnte es für wirksame Maßnahmen zu spät sein.

2. Unsere Intuition versagt, weil wir uns angesichts der Größe der Herausforderungen nicht auf unser Erfahrungswissen verlassen können.

3. Gleichgültigkeit für das, was danach kommt: In der Klimakrise sind es die Älteren, in der Corona-Krise die Jüngeren, die keine Einsicht haben.

4. Beide Krisen sind nur durch Kooperation und Solidarität zu meistern.

5. Die Ungewissheit ist groß und wir tun uns schwer, unser Nicht-Wissen einzugestehen. Dabei wäre genau das hilfreich.

6. Die Einschätzung, was systemrelevant ist, ändert sich radikal. Heute sind es Pflegekräfte, Polizisten, Kassiererinnen im Supermarkt. Die Klimakrise fordert uns noch mehr, zu erkennen wie verbunden wir miteinander sind.

7. Was ist wirklich wichtig? Corona zeigt uns, dass Menschlichkeit vor wirtschaftlichen Interessen geht.

8. Die Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft verschieben sich zugunsten des Gemeinwohls. Wir akzeptieren Einschränkungen zum Wohle von allen. Das sollten wir auch in der Klima-Krise tun.

Die gigantische Maschinerie kommt zum Stillstand

Seit Jahrzehnten beobachten wir ein kollektives Scheitern: Ein Klimaabkommen nach dem anderen, mühsam erkämpft, hat sich als wirkungslos und damit bedeutungslos erwiesen. Diejenigen, denen das Ausmaß der Katastrophe, auf die wir uns mit der Erderhitzung zubewegen, klar war, verzweifelten an der stoischen Gleichgültigkeit, mit der alles einfach weiter seinen Gang ging.

Und dann: Corona. Innerhalb von wenigen Wochen kommen weite Teile der gigantischen Maschinerie zum Stillstand. Ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Verluste oder persönliche Befindlichkeiten, koste es was es wolle, werden drastische Maßnahmen ergriffen, wie keiner von uns sie je erlebt hat.

Diese Maßnahmen sind weitaus einschneidender als alles, was selbst die radikalsten Ökoaktivistinnen in ihren kühnsten Träumen ersonnen haben. Schon bald werden Stimmen laut, die sich zurecht fragen: Warum stecken wir bei der einen Bedrohung den Kopf jahrzehntelang in den Sand, während bei der anderen keine Anstrengung zu viel ist?

Ein Teil der Antwort ist sicher, dass die Bedrohung durch die Klima-Krise für viele Menschen sehr abstrakt und daher nicht greifbar ist. Genau hier kann Corona uns helfen, denn in mancher Hinsicht ist diese Krise ein kleineres Modell der viel größeren ökologischen Krise, auf die wir seit Jahrzehnten ungebremst zusteuern.

Daran wird auch die kleine Atempause, die der vorübergehende Stillstand von Wirtschaft und Gesellschaft der Natur verschafft nichts ändern, wenn wir danach weiter machen wie zuvor. Oder – schlimmer noch – wenn wir dann mühsam errungene Umweltstandards über Bord werfen, um die Wirtschaft bloß wieder zum Laufen zu bringen, wie manche es schon jetzt fordern.

Doch vielleicht gelingt es uns, diese Krise zu nutzen, um in der weitaus größeren und komplexeren Krise intelligenter zu agieren. Dieser Artikel möchte zentrale Gemeinsamkeiten benennen, um diesen Lernprozess zu unterstützen

1. Exponentialität und Kipp-Punkte:

Corona ist ein Crash-Kurs für uns alle, was Exponentialität betrifft. Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn die Auswirkungen im Alltag sichtbar und spürbar werden, wird es zu spät sein, um die Katastrophe aufzuhalten. Das gilt für Corona und das gilt auch für das Klima.

In beiden Fällen schreitet die Ausbreitung/der Anstieg von Treibhausgasen in der Atmosphäre unsichtbar voran. Ungläubig schauen wir auf die Berechnungen der Experten, die uns in naher Zukunft den Kollaps bestimmter Systemteile vorrechnen. Der Kopf versteht, was sie sagen, aber alles in uns sträubt sich dagegen. Weil es nicht spürbar und nicht erlebbar ist, bleibt es völlig unwirklich.

2. Versagen der Intuition

Das führt auch dazu, dass unsere Intuition hier versagt. Da Bauchintelligenz auf Erfahrungswissen basiert, ist sie mit dieser Situation überfordert. Egal, wie viele Daten wir auswerten, es bleibt auf einer gefühlten Ebene abstrakt und surreal. Es ändert nichts an unserem subjektiven Empfinden, dass alles in Ordnung ist und wir in Sicherheit sind.

So ging es den meisten Menschen in den ersten Wochen der Corona-Pandemie, als sie noch eine abstrakte Bedrohung irgendwo in China war und sich jeder fragte, ob die Medien nicht mal wieder maßlos übertreiben. Erst als die Politik zu drakonischen Mittel griff, Grenzen, Geschäfte und Schulen geschlossen wurden, kam die neue Realität bei uns an. Und auch da sträubten sich viele noch. Verschwörungstheorien und Verharmlosungen wirkten viel plausibler als das Horrorszenario, das die Experten an die Wand malten. Beim Klimawandel gibt es bis heute Leute, die es hartnäckig als „Wetter” abtun, bei Corona analog dazu jene, die es als „Grippe” bagatellisieren.

3. „Uns kann es ja egal sein”

Diese Haltung findet sich in beiden Krisen. Bei der Klimakrise ist es die ältere Generation, die in weiten Teilen die Entscheidungshoheit hat, denen es letztlich herzlich egal sein kann. Wenn die Auswirkungen der jetzigen Untätigkeit wirklich spürbar werden, sind sie längst nicht mehr hier. Das wurde ihnen von Fridays for Future in den letzten eineinhalb Jahren immer wieder vorgehalten. Die jungen Leute forderten Mitsprache und Mitbestimmung für die Rettung ihrer Zukunft.

Bei Corona verhält es sich genau umgekehrt. Einige junge Leute sind offenbar der Meinung, ihnen könne es egal sein: Das Virus ist vor allem für Menschen ab 60 und jene mit Vorerkrankungen eine Bedrohung. Corona-Parties sind die jugendliche Analogie zur Trägheit der alternden Entscheidungsträger, wenn es um den Klimaschutz geht.

4. Kann nur durch Kooperation und Solidarität gelöst werden

Beide Krisen sind nur durch Kooperation und Solidarität zu meistern – und darin liegt ihre große Chance. Die Kurzsichtigkeit der Corona-Parties und der verschleppten Klimapolitik ist offensichtlich: Entscheidungsträger haben meist Kinder und Enkelkinder, die es werden ausbaden müssen. Junge Corona-Partygänger sind nicht nur selbst genau jene Kinder und Enkelkinder, sie sind auch zutiefst abhängig vom Funktionieren genau jener Systeme, die sie durch ihr Verhalten gefährden.

Sowohl Corona als auch das Klima sind für uns eine neu Art von Herausforderung. Wir sind als Kultur und Gesellschaft sehr gut darin, gegen einen gemeinsamen äußeren Feind anzukämpfen. Darin haben wir als Menschheit viele Jahrtausende Erfahrung.

Einige Politiker und Journalisten greifen diese Gewohnheit in ihrer Rhetorik auf. Schnell war vom „Krieg gegen Corona” die Rede. Auch im Umgang mit dem Klima wurde die Haltung in jüngster Zeit zunehmend martialisch. Charles Eisenstein analysiert diese sogenannte Kriegsmentalität im Klimaaktivismus eingehend in seinem Buch „Klima – Eine neue Perspektive”.

Diese Haltung übersieht jedoch, dass wir uns hier nicht einem äußeren Feind gegenübersehen. Im Krieg gilt das Prinzip: der Schaden des anderen ist unser Nutzen. Es gewinnt perverserweise derjenige, der möglichst rücksichtslos dem anderen maximal schadet.

Sowohl beim Klima als auch bei Corona, wo es keinen äußeren Feind gibt, gilt jedoch das umgekehrte: der Schaden eines anderen gefährdet uns alle. Jede Neuinfektion birgt das Risiko einer weiteren Ausbreitung. Jeder Hamsterkauf führt zur Verknappung. Jeder Flug, jedes SUV, jedes Kohlekraftwerk macht die Anstrengungen Einzelner, klimabewusster zu handeln zunichte, genau wie jedes Land, das sich nicht darum schert. Beide Krisen sind nur durch radikale Solidarität und Kooperation zu lösen, nicht durch Einzelgängertum und Konkurrenz. Zugleich müssen nicht alle mitmachen. Es reicht schon, wenn die überwiegende Mehrheit dabei ist.

5. Ganz viel Ungewissheit

Besonders schwierig ist der Umgang mit beiden Krisen durch die enorme Ungewissheit, mit der alle Expertinnen und Experten, alle Daten, alle Modelle behaftet sind. Zwar gibt es in beiden Fällen einen breiten Konsens unter Experten, dass die Gefahr real ist. Doch wie sie sich genau entwickeln wird, ob wir es mit 1,5 Grad oder 5 Grad Temperaturanstieg zu tun haben, ob zwei Wochen oder doch achtzehn Monate Quarantäne notwendig sind, ob die Sterberate 0,7 oder 6 Prozent beträgt – über all das herrscht sehr viel Unsicherheit.

Genau wie über die wirtschaftlichen Folgen. Wird sich alles in wenigen Wochen normalisieren, wie viele es offenbar immer noch hoffen? Oder ist die Pandemie das berühmte Zünglein an der Waage, das den großen Crash des labilen Weltwirtschaftssystems zwar auslöst ,aber sicher nicht verursacht, wie viele Crash-Propheten uns glauben machen wollen?

Das liegt natürlich daran, dass wir es in beiden Fällen mit einer so neuen Situation zu tun haben, dass wir kaum auf Erfahrungen zurückgreifen können. In diesen Zeiten drängen sich einfache Antworten auf. Verschwörungstheorien sind seltsamerweise beruhigend, denn dann hat ja zumindest irgendjemand die Fäden in der Hand. Bagatellisierungen und Alarmismus sind beides Versuche, Gewissheit zu bekommen in einer Situation, die für uns sehr ungewohnt und daher schwer auszuhalten ist: das Nicht-Wissen.

6. Wer ist hier eigentlich systemrelevant?

2008 wurden im großen Stil Banken gerettet mit der Begründung, sie seien systemrelevant. Das war für viele Menschen nicht nachvollziehbar. Systemrelevant für wen? Und für welches System eigentlich, wurde schon damals gefragt.

Die Corona-Krise zeigt, dass die damalige Definition von systemrelevant völlig an der Gesellschaft vorbeiging. Systemrelevant für das Finanzsystem, für das Wirtschaftssystem, ja, aber für die Menschen?

In der Corona-Krise werden all jene sichtbar, die bislang eher im Verborgenen gewirkt haben und wenig Wertschätzung erhalten haben: Pflegekräfte, Lageristen, Supermarkkassier, Müllabfuhr, Polizei, Erntehelferinnen, Lastwagenfahrer, Lieferservicefahrer und viele mehr. Plötzlich ist klar: Wenn die wegfallen, wenn sie nicht mehr zur Arbeit gehen können, weil sie krank sind, nicht einreisen können oder ihre Kinder betreuen müssen, dann haben wir wirklich ein Problem.

Und zwar kein abstraktes Problem irgendwo an der Börse, in Zahlen, auf dem Papier, sondern ganz konkret in Form von leeren Supermarktregalen, überquellenden Mülltonnen, fehlenden Händen auf den Feldern und mangelnder Versorgung in den Krankenhäusern. Corona macht uns damit unsere existentielle Abhängigkeit voneinander schlagartig bewusst.

Wir haben die Chance, uns als ein System zu erkennen und ganz neu wertzuschätzen. In London werden Obdachlose von Taxifahrern gratis in Hotels kutschiert, die für sie kostenlos zur Verfügung gestellt werden, weil klar ist: indem wir sie schützen, schützen wir uns alle, indem wir uns um sie kümmern, kümmern wir uns um uns selbst.

Die Klimakrise hingegen fordert uns zu einem viel größeren Erkennen von Verbundenheit auf. Es geht nicht nur darum, uns als Gesellschaft als ein System zu erkennen, sondern als planetares System. Was der Lagerist oder der Lastwagenfahrer in der Corona-Krise sind, sind die Bienen und die Wälder – um nur zwei Beispiele zu nennen – in der Klima-Krise. Zu sagen, wir können uns Artenschutz nicht leisten, wie manche Landwirte im Widerstand gegen das Artenschutzgesetz in Bayern argumentierten, ist absurd. Es ist so absurd wie die Idee, dass wir es uns nicht leisten können, den Lageristen oder die Pflegekraft zu schützen und anständig zu bezahlen für die systemrelevante Arbeit, die sie leistet.

7. Was ist wirklich wichtig?

In Krisen zeigen wir unser wahres Gesicht, heißt es so oft. Man könnte auch sagen: Krisen offenbaren, was unsere Werte sind und wie wichtig sie uns sind. Im Fall der Klimakrise, genau wie im Umgang mit den Migrationsbewegungen der letzten Jahre, entstand oft der Eindruck, dass es uns als Gesellschaft eigentlich nur noch um eines geht: Profit und unser eigenes, kurzfristiges Wohlergehen. Kein schönes Bild.

Corona zeigt nun, dass zumindest ein Wert inzwischen ganz tief in unserem kulturellen Selbstverständnis verankert ist: Jedes Leben zählt, auch von den Alten und Schwachen. Um diesen Teil der Bevölkerung zu schützen sind wir gerade bereit, große Opfer zu bringen und auch wirtschaftlich sehr starke Einbußen hinzunehmen. Zugleich zeigt der Umgang mit den flüchtenden Menschen, die wir gerade eiskalt sich selbst überlassen, dass dieser Wert sich bislang offenbar nur auf unser eigenes Land, maximal den eigenen Kontinent erstreckt. Leider.

Die Klimakrise zeigt hingegen ganz deutlich, welche Werte wir als Gesellschaft und als Kultur bislang nicht entwickelt haben. Es zählt zwar jedes Menschenleben – doch das Leben von Tieren, Pflanzen, Ökosystemen wird zwar theoretisch als schützenswert anerkannt, in der Praxis jedoch tagtäglich übergangen. Das Problem auch hier: Wenn wir am eigenen Leib zu spüren bekommen, dass Leben ein Ganzes ist, genau wie die Gesellschaft ein Ganzes ist, wird es möglicherweise zu spät sein.

8. Inwieweit können wir das Gemeinwohl Einzelnen überlassen?

Aktuell probieren wir aus, wie viel Eigenverantwortung und Freiheit möglich sind, wenn es um den Schutz des Gemeinwohls geht. Reicht es, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel an das Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen appelliert, zu Hause zu bleiben? Oder braucht es landesweite Ausgangssperren, wie sie in vielen anderen Ländern bereits verhängt wurden?

Diese Herangehensweise erinnert an die Verschleppung beim Klimaschutz. Jahrelang wurden Forderungen nach klareren Maßnahmen zurückgewiesen mit dem Hinweis „Jeder solle bei sich selbst anfangen”. Wie absurd dieser Ansatz ist, wenn zeitgleich die Werbemaschinerie auf Hochtouren weiterhin einen durch und durch nicht nachhaltigen Lebensstil propagiert und unser Wirtschaftssystem auf Hyperkonsum angewiesen ist!

Auf die Corona-Krise übertragen: Würden wir einerseits appellieren, Zuhause zu bleiben und zugleich auf allen Kanälen Werbespots für Urlaubsreisen, Gastronomiebesuche und andere Massenveranstaltungen senden? Würden Fußballspiele weiterhin in großen Stadien durchgeführt und Tickets dazu verkauft, jedoch an den Einzelnen appelliert, fernzubleiben?

Unser Lebensstil stiehlt künfitgen Generationen die Lebensgrundlage
Wer in den letzten Jahren bemüht war, den eigenen ökologischen Fußabdruck zu minimieren, fühlte sich oft wie der eine Mensch, der tatsächlich Zuhause bleibt, während alle anderen ins Stadium stürmen. Die eigenen Bemühungen können in so einem Kontext bestenfalls als symbolischer Akt begriffen werden. Die Leute, die sich im ausverkauften Stadium beim Fußballspiel amüsieren, können über so viel naives Gutmenschentum natürlich nur zynisch lächelnd den Kopf schütteln. Es bringt doch eh nichts!

Ja, es bringt nichts, wenn es nur Einzelne sind. Doch wenn wir alle zugleich bestimmte Einschränkungen als notwendig anerkennen, dann bringt es sehr wohl etwas. Wer jetzt denkt, ich plädiere hier für eine Ökodiktatur, versteht mich falsch. Ich plädiere für gemeinsam gewählte Einschränkungen zum Wohle von uns allen, genau wie wir es derzeit für Corona in Kauf nehmen.

Ein einfaches Beispiel dürfte verdeutlichen, was ich meine: Nehmen wir einmal an, wir leben in einer Gesellschaft, in der Diebstahl normal ist. Jeder klaut, es wird für ganz normal gehalten. Wenn wir das ändern wollen, dann ist es müßig, an Einzelne zu appellieren, damit aufzuhören. Wer als einziger nicht klaut in einer Gesellschaft von Dieben, steht zwangsläufig wie ein Idiot da. Es bringt nichts und er zieht den Kürzeren.

Zugleich ist offensichtlich, dass es allen besser geht, wenn ein Gesetz Diebstahl verbietet und dieses Gesetz zum Schutz aller auch durchgesetzt wird. Aber eben nur, wenn alle zugleich mit dem Klauen aufhören. Genau so erlebe ich es in unserer Gesellschaft. Diebstahl scheint bei uns normal. Unser Lebensstil stiehlt zukünftigen Menschheitsgenerationen und jetzigen anderen Spezies ihre Lebensgrundlage.

Jedes Billigprodukt ist ein Stück Diebstahl: an der Lebensqualität des Arbeiters in einem Billiglohnland, an der Schulbildung seiner Kinder, an den Umweltstandards, die bei der Produktion verletzt wurden etc. Doch dieser Diebstahl ist bei uns so normal, dass jeder Einzelne, der damit aufhört, kaum jemandem wirklich nutzt und selbst einen gravierenden Nachteil in Kauf nimmt. Meistens sind es Gutsituierte, die sich ihr gutes Gewissen leisten können.

Verbindliche, sozial verträgliche Regeln, die tatsächlich etwas bewirken, würden uns allen nutzen. Nicht nur das. Sie würden, wie bei Corona, Leben retten. Die Erfahrung mit Corona zeigt, dass die Gefahr von vielen erst dann als real erkannt wird, wenn genau solche Regeln erlassen werden. Beim Klimaschutz ist es ähnlich: So lange „die da oben” nichts tun, wird es in der Wahrnehmung vieler Menschen schon kein reales Problem sein.

Natürlich wird dann gejammert, keiner jubelt über Ausgangsbeschränkungen oder abgesagte Fußballspiele. Doch Corona zeigt auch, dass Menschen dankbar sind, wenn klare Maßnahmen ergriffen werden, um einer konkreten Gefahr zu begegnen und dass die meisten dann auch bereit sind, sich daran zu halten.

Das Innehalten nutzen

Und Corona zeigt, dass das nicht nur schlecht sein muss. Der Lock-Down treibt schon jetzt ungeahnte kreative und solidarische Blüten. Künstler entdecken den Live-Stream und verschenken ihre Darbietungen im Internet. Familien haben auf einmal ganz intensiv Zeit miteinander. Der erzwungene Abstand lässt eine neue Sehnsucht nach Miteinander und Kontakt aufkommen.

Viele Menschen scheinen das Innehalten auch zu nutzen, um innerlich und äußerlich aufzuräumen. Wertstoffhöfe verzeichneten in den ersten Tagen einen enormen Andrang: Es wurde schon von einem Corona-Nestbautrieb gesprochen. Lebensentwürfe werden infrage gestellt oder komplett über Bord geworfen.

Angemessene Klimaschutzmaßnahmen, die der tatsächlichen Dringlichkeit der Lage gerecht würden, müssten auch nicht nur negativ sein. Wie der Lock-Down würden sie uns zwingen, kreativ zu werden und neue Formen zu entwickeln, das Leben zu genießen. Wir könnten entdecken, dass wirklicher Wohlstand etwas anderes ist als Hyper-Konsum.

Andere Wohlstandsformen wie Zeitwohlstand, Beziehungswohlstand oder Kreativitätswohlstand könnten in den Vordergrund rücken. Genauso würde sich unser Freiheitsbegriff wandeln: vielleicht von der Freiheit, um die Welt zu jetten wie es uns gefällt oder unbegrenzt materiellen Besitz anzuhäufen, zu der Freiheit, unser Potenzial als Menschen zu entfalten und sinnvoll einzubringen. Von der Schneller-Höher-Weiter-Maxime des Wachstumsparadigmas befreit, könnten wir neu entdecken, was wirklich wichtig ist.

Nichts ist mehr, wie es mal war – und das kann auch eine Chance sein. Lasst sie uns gemeinsam nutzen, nicht nur für Corona, sondern für die viel dringlicheren Systemfragen, die auch nach dem Lock-Down nicht verschwunden sein werden.

Vivian Dittmar ist Gründerin der Be the Change Stiftung für kulturellen Wandel, Initiatorin des Projekts Bäume für den Wandel, Beraterin beim Terra Institute und Autorin mehrerer Bucherfolge. www.viviandittmar.net

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