Das intime Gebet

Viele Menschen sehnen sich nach einer anderen Qualität in ihrem Liebesleben. Achtsamkeit ist ein wichtiger Schlüssel zu einer tieferen Erfüllung – doch wer meint, ab jetzt gibt es nur noch Blümchensex, ist auf dem Holzweg.

Sex! Kaum ein Thema fesselt so zuverlässig unsere Aufmerksamkeit wie der – nüchtern betrachtet – eigentlich recht profane Vorgang der geschlechtlichen Vereinigung. Und seit moderne Verhütungsmethoden dieses Vergnügen von den Gefahren ungewollter Schwangerschaften oder ansteckender Krankheiten entkoppelt haben und die sexuelle Revolution die Schranken der Moral niedergerissen hat, sind unserer hemmungslosen Lust keine Grenzen mehr gesetzt – oder etwa doch?

Heilige Sexualität ist immer auch heilsame Sexualität.

Na ja, angeblich darf man ja alles und nichts ist mehr tabu. Doch statt – wie die Sittenwächter vergangener Generationen befürchtet hatten – in einem veritablen Sodom und Gomorrha aufzuwachen, macht sich auch Ernüchterung breit. Denn wo uns früher die Grenzen von Moral und Sittlichkeit von unserer Lust fernhielten, sind es heute viel häufiger innere Barrieren, die uns von unserer Erotik trennen. Nur weil wir alles dürfen, bedeutet das noch lange nicht, dass wir es können. Ist der Zauber der ersten Verliebtheit erst einmal verflogen, verkommt Sexualität in vielen Beziehungen zu einem profanen Vorgang. Was bleibt, ist bestenfalls die Sehnsucht nach etwas Anderem, Größerem, Tieferem, Erfüllenderem, Magischerem.

Viele suchen den entscheidenden Kick dann in Affären, in der nächsten großen Liebe oder in der grenzenlosen Wunderwelt der Pornoindustrie, wo ein Orgasmus den anderen jagt. Doch ist das wirklich der Weisheit letzter Schluss? Haben wir dafür die Grenzen überkommener Traditionen abgeworfen? War die Magie, nach der wir uns sehnten, nur ein Trugbild? Oder ist da doch noch mehr? Und wenn ja, wie kommen wir dahin?

Sex ist nicht nur geil

Doch, da ist noch mehr, viel mehr sogar. Ein Schlüssel zu diesem tieferen Erleben der Sexualität ist die Erkenntnis, dass Sex eine spirituelle Praxis sein kann. Natürlich kann alles eine spirituelle Praxis sein – auch Geschirrspülen oder Joggen. Doch Sex ist insofern besonders, da hier sehr starke Kräfte in uns aktiviert werden. Diese können uns entweder mit sich fortreißen und binnen kürzester Zeit im Strudel der Empfindungen die Orientierung verlieren lassen. Oder sie können, wenn wir bewusst mit ihnen umzugehen wissen, unser gesamtes System in andere Sphären heben. Mystische Erfahrungen, wie sie viele Menschen in der Meditation suchen, und intensive persönliche Heilungsprozesse werden hier auf natürliche Art angestoßen. Selbstverständlich passiert das nicht auf Knopfdruck. Es bedarf vielmehr, wie jeder spirituelle Weg, der regelmäßigen Praxis und der gezielten Übung.

Achtsamkeit kultivieren

Ganz praktisch bedeutet das, dass wir jene tiefere, erfüllendere Qualität in der Sexualität nicht finden, indem wir immer neue Sexualpartner oder Kicks ausprobieren, sondern indem wir genau da, wo wir gerade sind, achtsam werden. Wir können genau in diesem Moment damit anfangen, indem wir unseren Körper bewusst wahrnehmen, unseren Atem in jede Zelle fließen lassen und unserer erotischen Kraft nachspüren. Und wir können genau da, wo unser Sexualleben gerade ist, damit beginnen – mit uns selbst, mit einem Partner, mit einer virtuellen Realität –, indem wir auch dort bewusst werden.

Wenn wir unsere Empfindungen mit Achtsamkeit durchdringen, bekommen diese mehr Raum in uns. In diesem Raum können sich die sexuellen Energien entfalten und frei bewegen. Und indem diese sexuelle Energie durch unser ganzes System pulsiert, beginnen all unsere Sinne durch sie zu vibrieren. Sex bekommt eine andere Qualität, die ich auch gerne als ‚heilige Sexualität‘ bezeichne.

Heiliger Sex hat keine bestimmte Form

Wenn Achtsamkeit und Sexualität in einem Atemzug erwähnt werden, tauchen bei vielen Menschen Bilder von Blümchensex auf – Pastelltöne, sphärische Klänge, alles ganz zart, sanft und langsam, bloß keine schnelle oder gar heftige Bewegung! Das mag für manche genau das Richtige sein und ist sicher eine von vielen wunderbaren Spielweisen – doch ob das achtsam ist oder nicht, steht auf einem anderen Blatt. Es ist für mich vergleichbar mit der meditativen Praxis. Natürlich kann ich Meditation auf einem Kissen sitzend praktizieren – oder ich kann einfach nur sitzen. Ausschlaggebend ist das, was in mir geschieht. Bin ich präsent oder nicht? Bin ich achtsam oder nicht?

Habe ich das begriffen, kann ich genauso im Alltag praktizieren – beim Joggen, beim Spülen, beim Streitgespräch. Auch hier ist meine Achtsamkeit ausschlaggebend, nicht das, was ich tue. Achtsamkeit ist eine innere Hinwendung, keine äußere Form. Achtsamkeit ist die Anwendung von Bewusstsein auf das, was ist – egal, was ist. Übertragen auf die Sexualität bedeutet das, dass jeder Ausdruck von Sexualität von Achtsamkeit durchdrungen und dadurch transformiert werden kann – schnell oder langsam, sanft oder heftig, dynamisch oder tief versinkend. Und genau wie die verschiedenen Verrichtungen des Alltags wird unsere Sexualität durch unsere Achtsamkeit transformiert und geadelt.

Indem wir Sex als spirituelle Praxis begreifen und leben, wird er zu einer Art Gebet.
Sex als Heilungsraum

Die Worte heil, Heilung und heilig haben die gleiche Wurzel. Sie alle gehen auf das Wort ‚ganz‘ zurück. Heil ist das, was ganz ist. Heilung ist das, was ganz macht. Heilig ist das, was ganz und verbunden ist. Heilige Sexualität ist daher immer auch heilsame Sexualität. Sie entsteht, indem wir Kräfte in uns zusammenfließen lassen, die lange getrennt waren: die liebende Kraft unserer Herzen mit der triebhaften Kraft unserer Sexualität, die abgespaltenen Anteile unserer Persönlichkeit mit den lichten, geliebten Anteilen unseres Wesens.

Viele Menschen suchen in der Sexualität Grenzerfahrungen – das Dunkle, das Verbotene, das Unbekannte üben eine große Anziehungskraft auf uns aus. Wenn auch das alles sein darf und in den heiligen Raum der Achtsamkeit eingeladen wird, geschieht echte Alchemie. In den dunklen Räumen des Eros sind Teile unseres Wesens eingesperrt, nach denen wir schon lange gesucht haben: Lebenslust, Hingabefähigkeit, Klarheit, Größe, Verletzlichkeit, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Befreit werden diese weder, indem wir einen großen Bogen um die dunklen Bereiche machen, noch indem wir diesen Anteilen die alleinige Regie überlassen. Nur wenn wir den entscheidenden Schritt machen, diese Räume mit dem Licht des Bewusstseins zu durchdringen, geschieht Heilung.

Sex als Heilungsraum

Die Worte heil, Heilung und heilig haben die gleiche Wurzel. Sie alle gehen auf das Wort ‚ganz‘ zurück. Heil ist das, was ganz ist. Heilung ist das, was ganz macht. Heilig ist das, was ganz und verbunden ist. Heilige Sexualität ist daher immer auch heilsame Sexualität. Sie entsteht, indem wir Kräfte in uns zusammenfließen lassen, die lange getrennt waren: die liebende Kraft unserer Herzen mit der triebhaften Kraft unserer Sexualität, die abgespaltenen Anteile unserer Persönlichkeit mit den lichten, geliebten Anteilen unseres Wesens.
Viele Menschen suchen in der Sexualität Grenzerfahrungen – das Dunkle, das Verbotene, das Unbekannte üben eine große Anziehungskraft auf uns aus. Wenn auch das alles sein darf und in den heiligen Raum der Achtsamkeit eingeladen wird, geschieht echte Alchemie. In den dunklen Räumen des Eros sind Teile unseres Wesens eingesperrt, nach denen wir schon lange gesucht haben: Lebenslust, Hingabefähigkeit, Klarheit, Größe, Verletzlichkeit, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Befreit werden diese weder, indem wir einen großen Bogen um die dunklen Bereiche machen, noch indem wir diesen Anteilen die alleinige Regie überlassen. Nur wenn wir den entscheidenden Schritt machen, diese Räume mit dem Licht des Bewusstseins zu durchdringen, geschieht Heilung.

Jenseits von Konzepten

Damit diese andere Qualität von Sex möglich wird, ist es notwendig, ihn von Konzepten zu befreien – allen Konzepten. Das gilt für Ideen davon, wie erfüllende Sexualität aussieht, genauso wie für Bilder, die heilige oder bewusste Sexualität betreffen. Konzepte sind wie Krücken. Solange wir nicht laufen können, erweisen sie uns durchaus gute Dienste. Doch schon bald müssen wir sie beiseitestellen, um keine Fehlhaltung zu entwickeln. So verhält es sich mit allem, was wir über Sex gelernt haben, bewusst oder unbewusst: Wenn wir es nicht loslassen, verhindert es das Eintauchen und Erleben unserer ureigenen Sexualität – in jedem Moment neu. Wie lässt man Konzepte los? Indem man immer wieder vom Denken ins Spüren geht, sich auf die Empfindungen einlässt und jeden Gedanken darüber, ob man es gerade richtig macht, liebevoll ziehen lässt.

Das intime Gebet

Um zu erklären, warum ich Sex als intimes Gebet bezeichne, muss ich zunächst deutlich machen, was ich unter einem Gebet verstehe. Ein Gebet ist für mich keine fest vorgegebene Abfolge bestimmter Formeln. Ein Gebet ist eine innere Ausrichtung, die mich Verbundenheit mit der Lebendigkeit des Lebens unmittelbar erfahren lässt. Das kann für manche tatsächlich beim Beten eines Rosenkranzes geschehen – wenn die entsprechende Achtsamkeit und Ausrichtung gegeben sind. Es kann genauso durch viele andere Handlungen oder Rituale geschehen. Heilige Sexualität ist für mich ein solches Ritual – und ein sehr kraftvolles noch dazu. Indem wir Sex als spirituelle Praxis begreifen und leben, wird er zu einer Art Gebet. Und damit zu einem kraftvollen Transformationsraum für unser Bewusstsein, unsere Beziehungen und letztendlich für unser ganzes Leben.

 1. Lass Konzepte los.

2. Spüre deinen ganzen Körper und deinen Atem.

3. Sei emotional präsent.

4. Bejahe, was ist.

5. Sei ehrlich.

Erschienen auf Ursache/Wirkung.

Zum Weiterlesen: Sacred Sex aus dem edition est Verlag, Hardcover, 232 Seiten.

Vivian Dittmar ist Autorin mehrerer Bücher zu den Themen Gefühle und Beziehungen. Durch ihre Bücher, Vorträge, Seminare und Online-Angebote engagiert sie sich seit zwei Jahrzehnten für eine holistische Entwicklung von Mensch, Gesellschaft, Wirtschaft und Bewusstsein. www.viviandittmar.net

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