Machtkämpfe, steigende Scheidungsraten, Probleme in Patchworkfamilien, omnipräsente Beziehungskrisen – die Lage der Nation in Beziehungsdingen scheint nicht gerade rosig zu sein. Unsere Vorfahren kannten solche Probleme offenbar nicht. Sie konnten es sich gar nicht leisten, sich so in die Haare zu bekommen, wie wir uns das inzwischen genehmigen. Das mag sich zynisch anhören, ist aber ganz ernst gemeint. Beziehungen sind heute zweifellos viel komplizierter als früher. Doch woran liegt das? Und vor allem: Wie können wir lernen, mit unseren Beziehungen und den damit verbundenen Konflikten anders umzugehen?
Die Sehnsucht nach Beziehung
… ist tief in uns verankert. Wir werden aus Beziehung geboren und sind schon in unserem Heranwachsen auf vielfältige Beziehungen angewiesen, um überhaupt überleben zu können. Beziehungen geben uns Halt und Geborgenheit, Identität und Sinn.
Doch anders als früher sind Beziehungen heutzutage nicht mehr jene simple Selbstverständlichkeit, die man einfach lebt, ohne sie groß zu hinterfragen. Ob als Liebespaar, in der Familie, ob im politischen, beruflichen oder religiösen Kontext – in fast allen Lebensbereichen geben Beziehungen zunehmend Anlass zu ständiger Auseinandersetzung. Wir ringen um Beziehung, leiden unter ihrer Abwesenheit, ihrer Kompliziertheit, ihrer alles vereinnahmenden Wichtigkeit. Menschliches Miteinander ist zugleich projektionsbesetzter Sehnsuchtsort und Schauplatz unserer schlimmsten Verletzungen.
Beziehung scheint heute für viele Menschen mehr Frust als Lust zu sein, weshalb das Einlassen auf nahe, intime Beziehungen immer weniger wird. Begünstigt wird diese Entwicklung durch den wachsenden materiellen Wohlstand und die damit einhergehende (vermeintliche) Unabhängigkeit des Individuums. In den alten Jäger und Sammlerkulturen lebten die Menschen – genauso wie in späteren landwirtschaftlichen Gesellschaften – noch viel enger zusammen und empfanden gegenseitige Abhängigkeiten als etwas ganz Normales. Mit der Industrialisierung begann eine zunehmende Befreiung von solchen Zwängen, und dieser Trend setzt sich bis heute fort. Das neue kulturelle Ideal des digitalen Zeitalters betrachtet Unabhängigkeit als hohen Wert, weshalb immer mehr Menschen lautstark betonen: Ich komm ganz alleine klar!
Unabhängigkeit
… das hört sich super an, passt es doch zur aktuellen kollektiven Fixierung auf Individualisierung. Von allen Seiten wird uns eingeflüstert, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied und Abhängigkeit etwas für Schwächlinge oder Heimchen am Herd sei. Abhängigkeit bedeutet für viele, angreifbar und verletzlich zu sein. Abhängigkeit bedeutet für viele auch, dass andere Macht über sie haben. Also ist Abhängigkeit ein absolutes No-Go.
Dazu kommt, dass wir Unabhängigkeit (irrtümlicherweise) mit Erwachsensein gleichsetzen. Der Mensch, so meinen wir, wird als abhängiges Wesen geboren und sollte dann so gründlich wie möglich unabhängig von anderen werden, um „wirklich erwachsen“ zu sein. Entsprechend prägen wir unsere Kinder, ermutigen sie zur Unabhängigkeit und flüstern ihnen von klein auf ein, dass sie eines Tages alleine klar kommen müssen.
Was uns nicht bewusst ist: Das Streben nach Unabhängigkeit ist lediglich eine Zwischenstufe auf dem Weg zu tatsächlicher Reife. Nach Unabhängigkeit streben nicht Erwachsene, sondern Jugendliche – als notwendige pubertäre Reaktion, um den wichtigen Entwicklungsschritt der Abnabelung zu vollziehen. Bleiben wir jedoch in diesem Entwicklungsschritt hängen, weil wir ihn fälschlicherweise für das Endziel halten, hat das weitreichende Konsequenzen für unser Beziehungsverhalten und unsere Beziehungskompetenz.
Wir brauchen einander!
… Nur wenn wir diese Tatsache zulassen, kann „echtes Miteinander“ entstehen. Wer meint, im Leben niemanden zu brauchen, sieht nämlich keine Notwendigkeit, auf andere zu achten und zuzugehen. Wer Unabhängigkeit als höchstes Ziel anstrebt, darf sich außerdem nur jene Bedürfnisse eingestehen, die er sich selbst erfüllen kann. Und wer in Paarbeziehungen vorgibt, den anderen weniger zu brauchen, begibt sich automatisch in eine mächtigere Position.
All das ist den meisten Menschen heute nicht bewusst. Viele sehen sogar in der viel gepriesenen „Unabhängigkeit“ einen Schlüssel zu Beziehungsfähigkeit. Wenn sich jeder von uns selbst genügt, so die Logik, dann bekommen wir uns auch nicht mehr in die Haare. Und sollte der Andere sich nicht so verhalten, wie ich es gerne hätte, dann kann ich es viel leichter sein lassen, weil ich mir ohnehin selbst genug bin. Leider scheitert diese Theorie mit schöner Regelmäßigkeit beim berühmten Transfer in die Praxis. Entweder sie führt dazu, dass sich keiner der Beteiligten auf die Beziehung wirklich einlässt und sich um ein verbindliches Miteinander kümmert – oder es kommt zu erbitterten Machtkämpfen, wer sich wem unterzuordnen hat. Aber wenn uns die verheißungsvolle Unabhängigkeit nicht das ersehnte Glück in Liebes- und Beziehungsdingen beschert – was dann? Und was bedeutet echtes Erwachsensein, wenn nicht die Fähigkeit, alleine klar zu kommen?
Wirkliches Erwachsensein
… unterscheidet sich von der Allmachtsfantasie eines Halbstarken darin, dass man Eigenständigkeit und Abhängigkeit nicht mehr als Widerspruch erlebt. Wirkliche Reife weiß um ihre Bedürftigkeit und Verletzlichkeit. Erwachsene Menschen übernehmen Verantwortung für ihre eigenen Bedürfnisse – und zugleich wissen sie, dass sie für deren Erfüllung immer auch auf andere angewiesen sind. Dieses Einander-Brauchen ist kein Zeichen mangelnder Reife oder einer unvollständigen Entwicklung, wie uns manchmal glauben gemacht wird, sondern ein Merkmal unserer natürlichen Verbundenheit. Alles im Universum ist mit allem verbunden und daher auch aufeinander angewiesen. Wer das erkannt hat, kann damit beginnen, die eigene Unabhängigkeit in ein gesundes Gleichgewicht mit der natürlichen Abhängigkeit zu bringen. Diese Erkenntnis gibt uns den Freiraum, mit unserer Abhängigkeit umzugehen und sie bewusst zu gestalten.
Doch warum sind wir mit dieser einfachen Tatsache dermaßen überfordert, während sich unsere Vorfahren offenbar keinerlei Gedanken darüber machten? War die Welt früher noch mehr in Ordnung? Ganz so einfach ist es nicht. Die scheinbare Harmonie früherer Tage hatte nämlich eine völlig andere Grundlage als heutige Beziehungen.
Ein neues Ideal
Noch vor gar nicht allzu langer Zeit waren Beziehungen komplett anders strukturiert. Überall, wo Menschen existenziell aufeinander angewiesen waren, hielt man sich an ein einfaches Schema, das Konflikte und Machtkämpfe bereits im Vorfeld im Keim erstickte: Eine unantastbare Hierarchie gab vor, wer das Sagen hat. In Paarbeziehungen war es selbstverständlich, dass sich die Frau dem Mann unterordnet und ihm uneingeschränkte Autorität einräumt. Die gleichen hierarchischen Regeln galten auch in Eltern-Kind-Beziehungen, in der Schule, im Arbeitsleben etc. So sehr wir dieses Modell heute ablehnen, hatte es dennoch auch Vorteile. Der größte bestand darin, dass im Konfliktfall klar geregelt war, wessen Meinung oder Bedürfnis Vorrang hat. Die oder der Andere hatte sich schlichtweg zu fügen.
Wir Frauen und Männer des 21. Jahrhunderts setzen auf Gleichberechtigung und Augenhöhe. Die Sache hat nur einen Haken: Wir wissen nicht, wie das geht!
Von der trügerischen Idylle solch hierarchischer Strukturen haben wir uns zum Glück längst verabschiedet. Das neue Beziehungsideal heißt Gleichberechtigung. Wir Frauen und Männer des 21. Jahrhunderts wollen einander auf Augenhöhe begegnen. Wir möchten echte Partnerschaften, das ist sonnenklar. Die Sache hat nur einen kleinen Haken: Wir wissen nicht, wie das geht. Woher auch? Von wem hätten wir es denn lernen sollen?
Das Modell unserer Großeltern funktionierte, streng genommen, ohne viel Beziehungskompetenz. Es basierte nicht auf Kooperation, sondern auf Macht, Durchsetzungsvermögen und Unterordnung. Unser neues Ideal fordert jedoch ganz neue Kompetenzen, die wir uns erst erarbeiten müssen.
So gesehen sind wir tatsächlich beziehungsunfähig. Denn wir wissen weder, wie man gut mit Konflikten umgeht, ohne sich selbst zurückzustellen oder den Anderen unterzubuttern – noch haben wir bislang gelernt, in unseren Beziehungen mit emotionalen Ladungen umzugehen.
Konfliktpotentiale
Im neuen Beziehungsideal sind wir gefordert, zu uns selbst und unseren Bedürfnissen zu stehen, ohne die des Anderen zu missachten. Solange mein Gegenüber und ich dasselbe wollen, ist das überhaupt kein Problem. Doch wie sieht es aus, wenn sich unsere Bedürfnisse komplett widersprechen? Sind wir dann fähig, einander zu respektieren und gemeinsam eine Lösung zu finden, die für beide passt?
Zwei sich widersprechende Bedürfnisse zugleich zu respektieren, ist eine schwierige Herausforderung. Die meisten Menschen stellen daher entweder die eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund oder die des Partners. Im ersten Fall nehmen sie zu wenig Rücksicht auf den Anderen – im zweiten bleiben sie selbst auf der Strecke – in beiden Fällen ist der Konflikt vorprogrammiert und somit die Gefahr, dass sich die Beziehung in einen Scherbenhaufen verwandelt.
Erst wenn die Gleichzeitigkeit der Bedürfnisse auch in Konfliktsituationen gelingt, sind gemeinsame, verbindende Lösungen möglich.
Für ein gelingendes Miteinander auf Augenhöhe müssen wir also lernen, widersprüchliche Bedürfnisse gleichermaßen zu würdigen. Das heißt konkret, dass Menschen, die dazu neigen, sich selbst unterzuordnen, gefordert sind, ihre eigenen Bedürfnisse stärker wahrzunehmen und auszudrücken. Tun sie das nicht, wird sich das früher oder später rächen. Umgekehrt müssen jene, die zu wenig Rücksicht auf andere nehmen, lernen, den Bedürfnissen ihres Gegenübers Gehör zu schenken. Gelingt ihnen das nicht, wird sich auch das sich über kurz oder lang rächen. Erst wenn diese Gleichzeitigkeit der Bedürfnisse auch in Konfliktsituationen gelingt, können gemeinsame Lösungen entwickelt werden. Ich nenne solche Lösungen auch gerne „verbindende Lösungen“ – sie unterscheiden sich von Kompromissen darin, dass sie die Bedürfnisse aller bestmöglich berücksichtigen, anstatt den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden.
Was will ich tatsächlich?
Damit das gelingen kann, braucht es einen Perspektivenwechsel. Zur Veranschaulichung bleiben wir mal bei der Liebesbeziehung: Viele Paare sprechen in Konfliktsituationen nicht offen über ihre wahren Bedürfnisse, sondern konzentrieren sich darauf, eine bestimmte Vorstellung durchzusetzen. Da will zum Beispiel der Mann heute einen gemütlichen Abend zuhause verbringen. Eine nette Idee – wenn die Frau nicht darauf bestehen würde, tanzen zu gehen! Hinter diesen widersprüchlichen Vorstellungen kann sich eine Vielzahl von Bedürfnissen verbergen. Hinter dem Wunsch, zuhause zu bleiben, kann etwa das Bedürfnis nach Erholung, nach Zweisamkeit, nach Zärtlichkeit, nach einem ungestörten Gesprächsraum usw. stecken. Und beim Wunsch, Tanzen zu gehen, kann es zum Beispiel das Bedürfnis nach Bewegung, nach Geselligkeit, nach Abwechslung und noch vieles mehr sein.
In einer klassisch hierarchischen Situation würde einfach einer bestimmen, was gemacht wird, und der Andere ordnet sich unter. In einer gleichberechtigten Beziehung fehlt uns diese Option. Aber wenn es uns gelingt, in solchen Momenten unsere tatsächlichen Bedürfnisse mitzuteilen, darüber zu reden, sie gegenseitig zu respektieren, dann stehen die Chancen gut, eine gemeinsame Lösung zu finden.
Konflikte verbindend lösen
In vielen Beziehungen entstehen unnötige Konflikte, weil sich die Beteiligten zu früh darauf verlegen, die eigene Vorstellung zu verteidigen oder die des Anderen anzugreifen. Sätze wie „Jetzt waren wir doch schon gestern zuhause!” oder „Immer willst du tanzen gehen!” tragen in keiner Weise zu einer Klärung bei. Sie teilen bloß mit, dass wir die Bedürfnisse des Partners nicht respektieren – und eigentlich haben wir nur Angst, dass unsere eigenen Bedürfnisse zu kurz kommen.
Das angeführte Beispiel mag vielleicht banal erscheinen. Doch wenn es uns bei den kleinen Konflikten nicht gelingt, kooperative Lösungen zu finden, wie soll es dann bei den großen Themen funktionieren, bei denen Paare aufeinanderprallen? Mit etwas Übung können die allermeisten Konflikte gelöst oder sogar aufgelöst werden, indem man auf die tatsächlichen Bedürfnisse schaut. Wenn wir erkennen, wie viele Erfüllungsmöglichkeiten es für das Bedürfnis nach einem intimen Gesprächsraum, nach Zärtlichkeit, nach Bewegung oder nach Geselligkeit gibt, dann werden wir schnell feststellen, dass es in den meisten Fällen zwei Lösungen gibt, die in keiner Weise einen Konflikt darstellen.
Gefühlsausbrüche
Ein weiteres wichtiges Lernfeld für heutige Beziehungen ist der Umgang mit starken Emotionen. In jeder Beziehung, in jeder Partnerschaft kann es passieren: eine Kleinigkeit erwischt uns auf dem falschen Fuß – und ehe wir uns versehen, werden wir von völlig unangemessenen Gefühlswogen überflutet. In derart emotionalen Ausnahmezuständen sagen oder tun wir oft verletzende Dinge, die uns später sehr leid tun. Dann ist es aber meist zu spät, um sie ungeschehen zu machen. Anders als auf einem Computer lassen sich ausgesprochene Worte oder gar Taten nicht einfach mit einer Tastenkombinaton löschen. Klar, wir können uns entschuldigen, doch auch das funktioniert in der Regel nur beim ersten oder zweiten Mal.
Beleidigtsein, Tränenströme, Geschrei, Aggression… Auch mit derartigen Gefühlswogen sind wir heute gefordert, einen anderen Umgang zu finden. Damit dies gelingen kann, müssen wir uns zunächst mit der Frage befassen, wo sie herkommen:
Der emotionale Rucksack
Jeder Mensch trägt ein Paket emotionaler Altlasten mit sich herum. In diesem „emotionalen Rucksack“, wie ich ihn nenne, speichern wir alles Erlebte, das uns irgendwann einmal emotional überfordert hat. Das können wirklich traumatische Erfahrungen sein – aber auch solche, die für jemand anderen kaum ein Problem darstellen, für uns aber sehr wohl.
In Situationen emotionaler Überforderung brauchen wir die Unterstützung liebender Menschen, um sie zu verarbeiten. Als Kinder haben wir uns diese Unterstützung ganz instinktiv geholt: Wenn die anderen Kinder mal wieder ganz gemein zu uns waren, wenn das geliebte Haustier gestorben oder sonst etwas Schlimmes passiert ist, sind wir in Mamas Arme oder auf Papas Schoß geflüchtet. Dort konnten wir (wenn alles gut lief) einfach mal eine Runde weinen oder auch Dampf ablassen, wütend sein – und bald war die Welt wieder in Ordnung.
Fehlt diese Form von liebevoller Zuwendung, wandert die unverarbeitete Erfahrung in unseren emotionalen Rucksack. Dort wartet sie auf eine Gelegenheit, sich zu entladen. Das ist eigentlich eine gute Sache, denn wenn wir schlechte Gefühle zu lange mit uns herumtragen, werden wir früher oder später krank, unglücklich oder beides. Doch leider entladen sich diese angestauten Gefühle auf sehr vehemente und eben auch oft verletzende Weise bei genau jenen Personen, die wir am meisten lieben. Was eigentlich eine klärende Reinigung sein könnte, kann zu einem ernsthaften Beziehungsproblem führen, wenn wir keinen guten Umgang damit finden.
Gefühl oder Emotion?
Ein hilfreicher Schlüssel zum Umgang mit emotionalen Siedepunkten ist die Unterscheidung zwischen Gefühlen und Emotionen. Die beiden Begriffe wer den häufig synonym verwendet – ich trenne sie ganz bewusst voneinander, um zwei sehr unterschiedliche Phänomene zu benennen: „Emotion“ meint die beschriebenen emotionalen Altlasten, also jene nicht bewältigten, unterdrückten Gefühle aus der Vergangenheit, die in ähnlichen Situationen, plötzlich aus der Tiefe hervorbrechen und uns überfallen. Mit „Gefühl“ benenne ich hingegen jene Regungen, die direkt aus dem Moment heraus entstehen. Im Gegensatz zu einer Emotion haben sie nichts mit vergangenen Erfahrungen zu tun, sondern werden ausschließlich von der gegenwärtigen Situation erzeugt. Ein Beispiel: Ich bin mit meinem Partner zu einem bestimmten Zeitpunkt verabredet, und er kommt nicht daher. Das ärgert mich, denn ich finde, er sollte mir Bescheid sagen, dass und warum es später wird. Jetzt stehe ich da und warte und werde wütend. Handelt es sich bei der Wut um ein „echtes Gefühl“, dann werde ich genau so viel davon haben, wie es der Situation angemessen ist. Das bedeutet im konkreten Fall, dass ich mich genügend ärgere, um meinen Partner anzurufen und zu fragen, was eigentlich los ist. Es bedeutet jedoch nicht, dass es mir den Rest des Abends verderben wird, dass ich ihn irgendwie anschnauze oder die beleidigte Leberwurst spiele und tagelang schmolle. Ich werde einfach die Situation klären, und dafür ist Wut im positiven Sinne auch da.
Steckt jedoch das Thema Unpünktlichkeit als emotionale Ladung in unserem Rucksack (wie es bei mir selber lange der Fall war), dann wird die Geschichte ganz anders ablaufen. Die Intensität der ausgelösten „Emotionen“ ist dann so stark, dass wir nicht angemessen auf die Situation reagieren. Diese Intensität kann, aber muss sich nicht in einem Wutausbruch äußern – genauso kann es passieren, dass wir uns plötzlich ganz taub, depressiv, wertlos oder sonst irgendwie schlecht fühlen.
Bewusst entladen lernen
Solange wir ein Thema in unserem emotionalen Rucksack herumschleppen, werden wir Schwierigkeiten haben, in betreffenden Situationen gut damit umzugehen. Aber wie bekommen wir solche Pakete heraus aus dem Rucksack, ohne dass wir den Partner ständig als emotionalen Mülleimer missbrauchen?
Am besten, wir suchen einen sicheren und gesunden Rahmen für das Entsorgen unserer Altlasten. Frauen machen das oft ganz intuitiv. Unbewusst tun sie genau das, was auch ich heute im Fall einer emotionalen Aktivierung mache: Sie rufen die beste Freundin an und reden sich ihren Kummer erst mal von der Seele. Wenn es eine gute beste Freundin ist, wird sie uns nicht in unseren übertriebenen Anschuldigungen bestätigen, sondern einfach zuhören und liebevoll für uns da sein, wie unsere Eltern als Kinder für uns da waren. Nach maximal fünf Minuten – na gut, vielleicht auch mal nach zehn, wenn’s eine besonders große Ladung war – komme ich wieder zu mir und kann die Welt wieder klar sehen. Ich kann meinen Partner wieder als das wahrnehmen, was er eigentlich ist: ein lieber Mann, der sich vielleicht gelegentlich verspätet, es aber im Grunde genommen wirklich gut mit mir meint. Nach solch einem klärenden Gewitter, in dem ich viel Mögliches und Unmögliches gesagt habe, das ich schon kurz darauf nicht mehr so meine, kann ich mein eigentliches Bedürfnis deutlicher sehen und es mit meinem Partner ruhig und klar kommunizieren. Ich habe bewusst entladen.
Vorsicht Giftmüll
Meine Freundin weiß, dass das alles nicht ernst gemeint ist, aber einfach mal raus musste. Mein Geliebter wüsste das vielleicht auch – aber für ihn ist es deutlich schwieriger, die vielen unfairen Sachen, die ich ihm beim Entladen meines Rucksacks an den Kopf werfe, nicht ernst zu nehmen.
Ein unbewusster Umgang mit emotionalen Ladungen ist für eine Partnerschaft enorm gefährlich, und tatsächlich gehen viele Beziehungen an der fehlenden Unterscheidung zwischen Emotionen und Gefühlen zugrunde. Es gehört zur Natur von Beziehung, dass jene Menschen, die uns am nächsten stehen, die stärksten Emotionen in uns auslösen. Umso wichtiger ist es, dass wir gerade in unseren engsten Beziehungen, wie etwa zum Lebenspartner oder zu den Kindern, besonders achtsam damit umgehen. Versäumen wir dies, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass wir uns gegenseitig immer häufiger emotional aktivieren. Über kurz oder lang ist der Beziehungsraum dann so vergiftet oder vermint, dass die einfachsten Gespräche zu einem Spießrutenlauf werden. Im Extremfall bleibt dann nur noch die Trennung.
Jedem das Seine
Egal ob der jetzige Partner, der Ex, der Chef oder das eigene Kind bei mir den richtigen Knopf drückt und so eine Ladung hochgehen lässt – Schuldzuweisungen sind hier völlig fehl am Platz! Es sind und bleiben meine eigenen Emotionen. Und es ist unerlässlich, dafür die Verantwortung zu übernehmen – genauso wie ich die Verantwortung für die Ladungen anderer, die ich vielleicht auslöse, bei ihnen lasse. Beides ist in der Praxis ungeheuer schwierig. Anfangs erscheint es zuweilen sogar unmöglich, doch wie so oft macht auch hier die Übung den Meister: jedes Mal, wenn es mir gelingt, mit so einer Ladung eigenverantwortungsvoll umzugehen, wird es ein bisschen leichter.
Und irgendwann funktioniert es ganz selbstverständlich. Wenn das gelingt, ist ein wichtiger Meilenstein auf unserem Weg zu echter Beziehungsfähigkeit geschafft. Dann stellen selbst starke emotionale Ausbrüche in einer Partnerschaft kein Problem mehr dar. Im Gegenteil! Denn wenn beide gelernt haben, was es mit den Gefühlsstürmen auf sich hat und wie man gut damit umgeht, verwandeln sich solch schwierige Situationen in Gelegenheiten für tieferen Kontakt und eine neue Ebene der Intimität. Dann können wir einander verletzlich zeigen, mit all unseren Schatten, Schwächen, Ecken und Kanten – und wir wissen, dass jeder mal Unterstützung braucht, um mit gewissen Situationen klarzukommen.
Ein neues Miteinander
Ich weiß, das alles klingt nicht gerade einfach. Und wofür sollen wir uns denn so anstrengen? Ganz einfach: Wenn wir bereit sind, unsere Hausaufgaben zu machen, dann eröffnen wir uns die Möglichkeit, wesentlich erfüllendere Beziehungen zu gestalten, als dies früher der Fall war. Wenn wir an unserer Beziehungsfähigkeit arbeiten und altes Konfliktverhalten hinterfragen, dann kann ein ganz neues Miteinander entstehen, das nicht mehr auf Dominanz und Unterordnung basiert, sondern auf Respekt, Wertschätzung und Vertrauen. Also genau jene Art Beziehung, von der wir alle träumen.
Erschienen im Magazin „Wege“ (03/2017).
Vivian Dittmar Jg. 1978, lebt mit ihrer Familie in München. Sie war lange selbst beziehungsunfähig und sehr erleichtert, als ihr klar wurde, dass dies kein persönliches Versagen darstellt. Ihr eigener Weg, „beziehungsweise“ zu werden, bildete die Grundlage für ihr über 20- jähriges Engagement als Referentin, Seminarleiterin, Autorin und Mutter. Heute ist Vivian Autorin mehrerer Bücher zu den Themen „Gefühle“ und „Beziehungen“, Gründerin der „Be the Change Stiftung“ für kulturellen Wandel und Beraterin beim „Terra Institute“, einem Think-and-Do-Tank für Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft. www.viviandittmar.net
Zum Weiterlesen: das Buch Beziehungsweise, erschienen im edition est Verlag.